Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER
Sie waren nicht dressiert und nicht bestellt.“ Doch wie DU UND DAS TIER 2003 anlässlich der Feier zur offiziellen Eröffnung des Tierschutzzentrums Weidefeld des Deutschen Tierschutzbundes berichtete, „flog ein Schwarm Vögel in anmutigem Formationsflug über die versammelten Zuhörer hinweg. Ein gutes Omen für die Einweihung dieser bundesweit einmaligen Einrichtung.“ Und die Autorin sollte recht behalten. Denn in den 20 Jahren seines Bestehens ist das Tierschutzzentrum in Kappeln an der Schlei deutlich gewachsen. Das verdeutlicht die Ausnahmestellung der Vorzeigeeinrichtung, die nach wie vor einzigartig in Deutschland ist. Ein Grund zur Freude ist es jedoch nur bedingt. Denn zum Jubiläum wird deutlich, dass das Zentrum auch ein Mahnmal für den hohen Bedarf ist, der nach wie vor eher steigt als abnimmt. Mehr denn je ist Weidefeld Zufluchtsort für Tiere, die keinen Platz in normalen Tierheimen finden. Das Zentrum gibt auch denen eine zweite Chance, die nicht vermittelbar sind, die aus schlechter Haltung stammen und behördlich beschlagnahmt werden mussten, aus der Landwirtschaft von verantwortungslosen Halter*innen ausgesetzt wurden oder die in der Natur verletzt nicht überlebt hätten. Doch niemand hätte bei der Eröffnung wohl geahnt, wer nach zwei Jahrzehnten alles vorübergehend oder dauerhaft auf dem ehemaligen Militärgelände an der Ostsee wohnen würde. Heute betreut das Team wie schon damals Hunde, Pferde, Schweine, Hühner, Igel, Greif- und Seevögel, aber mittlerweile auch Affen, Waschbären, Papageien, Geckos, Pythons, eine Schnappschildkröte und sogar ausgewachsene Bären.
„Wie es im Tierschutz so oft der Fall ist, haben wir über die Jahre immer wieder auf aktuelle Entwicklungen reagiert. Wenn irgendwo in Deutschland ein Bedarf entstanden ist und wir die personelle, logistische und dank unserer Spender*innen finanzielle Möglichkeit hatten, hier auf dem Areal eine Lösung schaffen zu können, haben wir es umgesetzt“, berichtet Dr. Katrin Umlauf, Leiterin des Tierschutzzentrums. Das Affenhaus etwa entstand im Jahr 2011, als in Berlin eine größere Gruppe Grüner Meerkatzen beschlagnahmt wurde. Das Bärenrefugium kam 2019 hinzu, nachdem der Pachtvertrag des Anholter Bärenwaldes nicht verlängert werden konnte. Und auch die 400 Quadratmeter große Reptilienstation, die heute rund 170 Tieren ein Zuhause bietet, entstand 2016 aufgrund des akuten Bedarfs. „Zu der Zeit haben wir die uns angeschlossenen Tierheime befragt. Dabei wurde deutlich, dass – und das ist heute aktueller denn je – immer mehr Reptilien bei ihnen abgegeben wurden. Bis heute verfügen nur wenige Tierheime über die Räumlichkeiten und das Knowhow, um sie angemessen zu versorgen.“ In solchen Fällen bietet der Deutsche Tierschutzbund seinen Mitgliedsvereinen Hilfe an. Die Tiere im Tierschutzzentrum stammen neben behördlichen Beschlagnahmungen aus schlechter oder illegaler Tierhaltung überwiegend von ihnen. Neben den Reptilien oder großen Tieren wie Schafen, Ziegen oder Pferden gilt dies beispielsweise auch für besonders hilfsbedürftige und problematische Hunde. Mit viel Geduld und Expertise therapieren und trainieren die Mitarbeiter*innen sie im Lissi Lüdemann-Haus mit dem Ziel, anschließend erfahrene Halter*innen für sie zu finden. Dieses Hundeprojekt leitete Umlauf bereits vor 20 Jahren.
Für alle Tiere, die das Tierschutzzentrum aufnimmt – in den 20 Jahren rund 6.800 – soll es nur ein Zuhause auf Zeit sein. Manche, beispielsweise Waschbären, gelten jedoch als invasive Arten und dürfen nicht ausgewildert werden. Andere sind zu alt, krank oder so anspruchsvoll zu halten, dass sie bleiben. „Sie übernehmen bei Führungen mit ihren Leidensgeschichten eine Botschafterfunktion. Die Tiere geben so verschiedenen Tierschutzproblemen ein Gesicht, sei es Missständen in der privaten Exotenhaltung, Problemen in Zirkussen und Zoos oder den Bedingungen in Landwirtschaft, Laboren und Pelzfarmen“, berichtet Umlauf. Denn die Anlage ist mehr als eine Auffangstation für Notfälle. Angemeldete Besucher*innen können sich dort über Tierschutzthemen und den praktischen Tierschutz informieren. „Dabei geht es uns um echte Aufklärungsarbeit, deshalb sind manche Besucher*innen zunächst verwundert, dass sie das Gelände nicht ohne Weiteres besichtigen können. Wir sind kein Zoo, der seine Tiere zur Schau stellt.“ Für Mitgliedsvereine bietet der Deutsche Tierschutzbund dort Seminare und Hospitationen an, beispielsweise zum Umgang und der Pflege von Reptilien. Daneben entwickelt das Team mit den Kolleg*innen aus der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes praxisnahe Lösungen zu aktuellen Tierschutzfragen. „Die Erkenntnisse, die wir gewinnen, kommen auch den Tierschutzvereinen und anderen Tierschutzeinrichtungen zugute“, sagt Umlauf.
Wenn die Leiterin über das Areal läuft, auf dem Ziegen grasen, Hängebauchschweine sich im Matsch suhlen, Affen durchs Geäst springen und Bussarde nach Verletzungen erste Flugversuche starten, kann sie manchmal selbst kaum glauben, was um den Hühnerhof nahe des Eingangs entstanden ist. Er gehörte mit der Seevogelrettungsstation, dem Lissi Lüdemann-Haus, der Greifvogelvoliere, dem Winterquartier für Fledermäuse und der Offenstall-Haltung für Großtiere zu den ersten Projekten. Noch heute erholen sich darin bis zu 30 gerettete Hühner und Hähne von den Strapazen in der industriellen Tierhaltung. Natürlich steht ihnen dazu ein großzügiger Auslauf zur Verfügung. „Abgesehen von den Terrarienbewohnern können alle Tiere eigenmächtig entscheiden, ob sie nach draußen an die frische Luft möchten“, berichtet Umlauf. Das ist – ebenso wie jeder Ausbau, jede Fütterung oder die individuell auf die Tiere zugeschnittene Betreuung – nur den zahlreichen Spender*innen sowie Patinnen und Paten zu verdanken, die die Arbeit des Tierschutzzentrums begleiten und ermöglichen. Und diesen einmaligen Ort hoffentlich auch in den kommenden 20 Jahren und darüber hinaus unterstützen. Wie er dann aussehen wird? Das weiß das Team selbst nicht. Denn in Weidefeld ist eines gewiss: Der nächste akute Bedarf für Tiere in Not kommt bestimmt. Und dann wird es die nächste kreative Lösung finden.
Bildrechte: Artikelheader: Deutscher Tierschutzbund e.V. – Kristina Steiner; Deutscher Tierschutzbund e.V. – Kristina Steiner (Frau/Hund, Igel, Ziege/Frau)