Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER
Juckt es Sie auch am Kopf, wenn Sie an Läuse denken? Die meisten von uns verbinden die kleinen Wesen entweder mit Kindern, die die Tiere aus dem Kindergarten mit nach Hause bringen, oder dem Befall von Pflanzen in Wohnzimmern und Gärten. Läuse haben nicht gerade den besten Ruf und sind eher mit ekligen Assoziationen verbunden. Kein Wunder, in der Regel sind sie nervig, machen Arbeit und entsprechen auch nicht gerade dem Ideal von einem liebenswerten Tier. „Tatsächlich sind aber auch Cochenille- und Lackschildläuse fühlende Lebewesen“, sagt Nina Brakebusch, Referentin für Interdisziplinäre Themen beim Deutschen Tierschutzbund, und versucht damit eine Lanze für die Insekten zu brechen. Beide Arten spielen in der Herstellung von Echtem Karmin und Schellack eine besondere Rolle, und begegnen uns so täglich im Alltag – meist unbemerkt.
Wilde Cochenille-Schildläuse haben ihren Ursprung in Südamerika. Mit dem Seehandel kamen sie auch nach Mittelamerika und später zusätzlich auf die Kanaren, nach Madagaskar und Südafrika. Die Tiere leben in freier Natur in Höhenlagen von bis zu 2.500 Metern und kommen bestens mit rauerem Klima zurecht. Sie bilden Kolonien, die aus mehreren Generationen bestehen, und leben als Parasiten auf verschiedenen Kakteengewächsen, wie zum Beispiel der Kaktusfeige. Sie ernähren sich von dem Saft der Pflanzen, ohne dass diese absterben. Gleichzeitig sind die Läuse eine wichtige Nahrungsquelle für eine Reihe von Marienkäferarten und weitere Insektenfamilien. Die weiblichen Cochenille-Schildläuse haben einen dunkelpurpur leuchtenden Körper, der breit und eiförmig sowie sechs bis sieben Millimeter lang ist. „Ihre besondere Farbe, die wahrscheinlich der Abwehr von Fressfeinden und Parasiten dient, verdanken sie der hohen Konzentration von Karminsäure, die in ihrem Fettkörper gespeichert wird“, so Brakebusch. Allerdings ist ihre ganze Farbpracht auf den ersten Blick nicht immer ersichtlich, weil ihre Körper zum Großteil von einem weißen, mehligen Wachs bedeckt sind, der die Tiere vor Hitze und Austrocknung bewahrt. Die Männchen sehen in den frühen Lebensstadien genauso aus, verpuppen sich aber zu einem späteren Zeitpunkt und fliegen anschließend ausgestattet mit zwei Flügeln zu den verschiedenen Pflanzen, um sich dort mit den Weibchen zu paaren. Pro Jahr entstehen so bis zu fünf neue Generationen.
Dass in den Cochenille-Schildläusen großes Farbstoffpotenzial liegt, haben die Menschen in Süd- und Mittelamerika bereits vor langer Zeit erkannt. Schon im zweiten Jahrhundert vor Christus haben sie auf dem heutigen Gebiet von Peru, Bolivien, Ecuador und Mexiko die Läuse zum Färben von Stoffen verwendet. Der kommerzielle Handel mit den Tieren begann 1540 und schnell wurde Cochenille, heute vor allem Echtes Karmin genannt, nach Silber die wichtigste Exportware aus den spanischen Kolonien in Südamerika. Heute findet die Produktion allem voran nach wie vor in Peru, Bolivien und Mexiko, aber auch in Chile und auf den Kanaren statt. „Die heute verwendeten Läuse sind durch die Zucht mehr als doppelt so groß wie ihre wild lebenden Artgenossen und enthalten wesentlich mehr Karminsäure“, erläutert Brakebusch. „Gleichzeitig sind sie aber auch deutlich witterungsempfindlicher, sodass unerwartet nasses oder kaltes Wetter ganze Populationen vernichten kann.“ Um an den begehrten Farbstoff zu gelangen, kultivieren die Bäuerinnen und Bauern die Läuse auf riesigen Plantagen, indem sie die Kakteenpflanzen gezielt mit den Tieren infizieren. „Nach der Eiablage kratzen sie den Großteil der Weibchen mithilfe eines speziellen Schabers herunter. Dabei kommt es natürlich vor, dass einige Tiere zerquetscht oder verletzt werden“, erklärt Brakebusch. Ein gewisser Teil verbleibt auf den Pflanzen und einen weiteren Teil der abgenommenen Tiere setzen die Bäuerinnen und Bauern auf neue Pflanzen, um sie so weiter zu verbreiten. „Die restlichen Tiere töten sie, indem sie diese stark schütteln, über heißem Wasserdampf kochen, in Essig ertränken oder einige Tage in die Sonne legen.“ Je nach Tötungsmethode unterscheiden sich die einzelnen Schritte etwas, zur Gewinnung des begehrten Echten Karmins müssen die Tiere aber in jedem Fall getrocknet und anschließend mit Essig gewaschen werden, um die weiße Wachsschicht abzulösen. Im letzten Schritt werden sie gemahlen, unter Zusatz von Schwefelsäure erneut gekocht und nach Abschluss einiger weiterer Schritte am Ende noch einmal getrocknet. Aus einem Kilogramm getrockneter Cochenille-Schildläuse – das entspricht etwa 60.000 bis 100.000 Tieren – entstehen so etwa 50 Gramm Echtes Karmin.
Die entfernten Verwandten der Cochenille-Schildläuse, die Lackschildläuse, sind von China bis Indien in verschiedensten Ländern des asiatischen Kontinents sowie in Aserbaidschan und Georgien verbreitet. „Wissenschaftler*innen haben die Tiere bisher auf 71 Pflanzenarten nachgewiesen – sie leben also auf deutlich mehr Pflanzen als die Cochenille-Schildläuse. Dazu zählen zum Beispiel Birken-, Kürbis- oder Walnussgewächse, aber auch verschiedene Rosen- und Malvenarten sowie Hülsenfrüchte – sie sind auf zahlreichen Pflanzenarten zu Hause“, sagt Brakebusch. Die orange-bräunlich gefärbten weiblichen Tiere leben ebenfalls in Kolonien, sind etwa ein bis zwei Millimeter groß, rundlich und besitzen keine Flügel. Wie die meisten Schildläuse ernähren sie sich als Parasiten vom Saft der Pflanzen. Die Männchen, die sich in ihrem Aussehen unterscheiden und recht unscheinbaren Fluginsekten gleichen, haben Flügel und fliegen von den Pheromonen der Weibchen angelockt zu den verschiedenen Kolonien, um sich dort mit diesen zu paaren. Nach der Befruchtung stechen die Weibchen die Rinde junger Zweige an und nehmen erhebliche Mengen Pflanzensaft auf. Das dabei mit aufgenommene Harz scheiden sie wieder aus, und es entsteht eine bernsteinfarbene, feste Kruste auf den Oberflächen der Zweige, die ihnen als schützender Kokon dient. Nachdem die Tiere die Eier darin abgelegt haben und anschließend sterben, lebt die nächste Generation noch bis zu sechs Monate in dieser selbst gebauten Umgebung und bohrt sich anschließend ins Freie.
Während es bei der Gewinnung von Echtem Karmin um die Farbe der Läusekörper geht, basiert die Herstellung von Schellack auf dieser ausgeschiedenen festen Harzschicht. „Um Schellack zu gewinnen, schneiden die Bäuerinnen und Bauern die verkrusteten Zweige der Bäume ab und schlagen den sogenannten Stocklack ab“, berichtet Brakebusch. Anschließend waschen sie die Masse in mehreren Durchgängen, schmelzen sie und formen sie zu einer dünnen Schicht. „Ist das Material getrocknet, zerbricht es und es entsteht der charakteristische Blätterschellack.“ Für ein Kilogramm Schellack wird das Sekret von circa 300.000 Lackschildläusen benötigt. Allein in Indien sind etwa drei Millionen Menschen mit der Gewinnung der Substanz beschäftigt und produzieren etwa 18.000 Tonnen pro Jahr – die Herstellung ist ein lukratives Geschäft. Da einige Produzent*innen angeben, dass sie nur Zweige verwenden, die von den Jungtieren bereits verlassen wurden, gilt Schellack als tierfreundlicher als Echtes Karmin. „Es lässt sich jedoch nie ganz verhindern, dass zahlreiche lebende Läuse weiterverarbeitet werden, die sich noch in Rückständen des Harzes auf Blättern oder Rindenstücken verbergen. Diese Tiere sterben häufig einen schmerzhaften, langsamen Tod“, schildert Brakebusch.
Daher ist Schellack genauso wie Echtes Karmin weder vegan noch vegetarisch. Denn für alle Produkte, die direkt aus Läusen oder ihren Ausscheidungen gewonnen werden, müssen Tiere ihr Leben lassen. Dabei macht Brakebusch darauf aufmerksam, dass auch Läuse zur Empfindung von unangenehmen Reizen und Schmerzen in der Lage sind. „Hinzu kommt, dass bei der industriellen Bewirtschaftung der Plantagen nie ausgeschlossen werden kann, dass sich die hoch gezüchteten Männchen mit wild lebenden Weibchen verpaaren und so deren Genpool verändern“, so die Expertin. „Die mit der Zucht verknüpften Nachteile, wie die geringere Kältetoleranz der Tiere, können so zu einem Absterben der wilden Populationen führen.“ Doch was ist die Alternative? „Es gibt heute genügend tierfreie Alternativen aus pflanzlichen Stoffen, die die weitere Zucht von Schildläusen obsolet machen können.“ Darüber hinaus können Verbraucher* innen beim Einkauf nach den Zusatzstoffen E 904 und E 120 Ausschau halten, hinter denen sich Schellack und Echtes Karmin verbergen – und so vermeiden, dass sie die versteckten Läuse unbemerkt im Einkaufskorb mit nach Hause nehmen.
Der als Lebensmittel zugelassene Farbstoff trägt die Zusatzstoffbezeichnung E 120, der anhand dieser Nummer in den Zutatenlisten der Produkte im Supermarkt leicht zu identifizieren ist.
Karmin darf unter anderem für Konserven von roten Früchten, Marmeladen, Desserts und Tortenfüllungen, Süßigkeiten, Fruchtsäfte, Käse und weitere Milchprodukte wie zum Beispiel Erdbeerjoghurt, Fischrogen-Imitate, Surimi, Wurst und Fleischzubereitungen, Marinaden, Soßen, Fisch und Krebstiere sowie aromatisierte Getränke verwendet werden.
Darüber hinaus findet Karmin auch Verwendung als Kosmetikfarbstoff in zum Beispiel Lippenstiften, Nagellack oder Kunstblut, und ist Teil verschiedener Lacke, Polituren und Malerfarben. Auch in Dragées, Filmtabletten, Kapseln oder Salben der Pharmaindustrie ist der Stoff oft enthalten. Über die Farbgebung hinaus sorgt Karmin für Bindung.
Schellack wird hauptsächlich als Überzugsmittel, aber auch als Klebe- oder Bindemittel eingesetzt und ist zudem als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen, der unter der Nummer E 904 erkennbar ist.
In der Lebensmittelindustrie sorgt eine Schutzschicht mit Schellack, oft in Kombination mit Bienenwachs, dafür, dass Obst und Gemüse länger frisch bleiben. Bei Biogemüse und -obst ist dies nicht erlaubt. Darüber hinaus dient Schellack als Überzugsmittel von Süßigkeiten wie zum Beispiel Schokolade oder Schokolinsen, aber auch von Kaugummi, Kaffeebohnen und Nüssen sowie magensäureresistenten Tabletten. Im Haarspray oder Nagellack sorgt Schellack für Glanz und dient in Cremes als Emulgator. Seine bindende Fähigkeit kommt zudem in Farben, Lacken, Druck- oder Tattoofarben zum Einsatz.
Darüber hinaus in Politur von Holz (Restauration und Pflege von Möbeln), Fixieren von Zeichnungen wie Bleistift-, Kohle- oder Kreidezeichnungen.
Klebemittel: Schmuckbearbeitung (etwa zum Verkleben von Steinen), Zigarettenpapier, als Polsterkleber von Instrumenten, zum Beispiel vom Saxophon, in Uhren oder als Isolatorlack in elektrischen Geräten
Bildrechte: Artikelheader: stock.adobe.com – Kris Hoobaer (Kaktus); Fotos: stock.adobe.com – juriskraulis (Harz/Schelllack), raptorcaptor (Karmin/Läuse), SONJA (Quark); Pixabay – Steve Buissinne (Apfel)