Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal Raketensplitter annehmen muss.“ Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, musste tief durchatmen. Seine Vorrednerin Irina Naumova, Leiterin des Tierschutzzentrums Odessa des Deutschen Tierschutzbundes, hatte gerade auf dem Podium der Mitgliederversammlung des Verbandes in Bonn den Beutel mit den Spuren des Krieges in der Ukraine geleert. Sie stammten vom Gelände des Tierschutzzentrums. In den Reihen der 250 Vertreter*innen der Landesverbände und angeschlossenen Tierschutzvereine waren Tränen zu sehen, nachdem Naumova geschildert hatte, unter welchen kaum auszuhaltenden Bedingungen sie und ihr Team den Tieren in der Hafenstadt seit Februar 2022 weiterhin helfen. „Was wir in anderthalb Jahren erlebt haben, reicht für ein ganzes Leben“, sagte sie. Allen Widrigkeiten zum Trotz halten die verbliebenen Mitarbeiter*innen auch in Zeiten des Krieges mit Unterstützung des Deutschen Tierschutzbundes die Stellung und konnten 2022 insgesamt über 1.200 Tiere versorgen und fast 1.000 kastrieren. Auch aktuell betreuen, operieren und versorgen sie Hunde und Katzen aus dem gesamten Stadtgebiet Odessas, „denn sie brauchen uns und tragen keine Schuld“. Die Zuhörer*innen im Saal drückten ihren Dank und ihren Respekt mit stehenden Ovationen aus. Schröder kündigte an, dass der Verband weiterhin „mit allen uns möglichen Mitteln dem Tierschutzzentrum Odessa zur Seite steht. Wir bleiben bei Euch“, sagte er und zeichnete Naumova „stellvertretend für das ganze Team“ mit der Goldenen Ehrennadel des Deutschen Tierschutzbundes aus. „Schön, dass es Euch gibt.“
Nach einem so emotionalen Höhepunkt fiel es allen Beteiligten nicht leicht, wieder zur Tagesordnung der Mitgliederversammlung zurückzukehren. Doch auf dem Programm standen wichtige Punkte: Präsidiumsmitglieder wählen, über den Haushalt beraten, über Resolutionen abstimmen und den Tierschutznachwuchs auszeichnen.
Nicht zuletzt geht es darum, dass der Dachverband von rund 740 Tierschutzvereinen und 16 Landesverbänden seine professionelle Arbeit fortsetzen kann und sich die Mitglieder unter dem Motto „Gemeinsam für den Tierschutz, gemeinsam im Deutschen Tierschutzbund“ für die Tiere einsetzen und gegenseitig stärken können. Die Führung übernimmt dabei erneut Thomas Schröder, denn die aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Delegierten wählten ihn für weitere vier Jahre zum Präsidenten. Bereits seit 2011 steht er dem Dachverband vor. Als neue Vizepräsidentinnen wählte die Mitgliederversammlung Ellen Kloth, Vorsitzende des Deutscher Tierschutzbund Landesverbandes Schleswig-Holstein, die zuvor schon als kooptiertes Präsidiumsmitglied aktiv war, sowie Judith Schönenstein, Tierärztin, Hundetrainerin und Vorstandsmitglied des Landestierschutzverbandes Nordrhein-Westfalen. Um die Vizepräsidentschaft kandidiert hatte außerdem Eva Rönspieß, Vorstandsvorsitzende des Tierschutzvereins Berlin und Umgebung sowie kooptiertes Mitglied des Präsidiums des Deutschen Tierschutzbundes. „Ihr will ich auch von Herzen danken, dass sie ebenso bereit gewesen wäre, diese Verantwortung zu übernehmen“, so Schröder. Als Schatzmeister wiedergewählt wurde Jürgen Plinz. Das Plenum bestätigte zudem Simon Berghane als Jugendländerratsvertreter. Er ist damit ebenso Mitglied im Präsidium. Die bisherigen Vizepräsidentinnen Dr. Brigitte Rusche und Renate Seidel hatten sich nicht mehr zur Wahl gestellt. Schröder bedankte sich bei beiden für ihr langjähriges Engagement für die Tiere und den Verband. So hob er zum Beispiel Seidels großartigen Impulse hervor. „Ich habe Dich schätzen gelernt, weil Du nicht laut und immer vorne mit dabei bist, dafür aber beharrlich und konsequent.“ Bei seinem Dank an Rusche merkte er an, dass sie auch das eine oder andere Mal gestritten hätten. „Aber immer nur in der Sache, weil wir eine gemeinsame Lösung finden wollten. Ich bin dankbar, dass ich die Zeit mit dir verbringen konnte, und bitte Sie, liebe Tierschützer*innen, zuzustimmen, dass wir Renate Seidel und Dr. Brigitte Rusche zu Ehrenvizepräsidentinnen des Deutschen Tierschutzbundes ernennen.“ Diesem Aufruf folgten die Anwesenden gerne (ein Interview mit Rusche und Seidel lesen Sie hier).
Schönenstein und Kloth hatten in ihrer Vorstellungsrunde vor der Wahl angekündigt, einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Unterstützung der Tierheime legen zu wollen. Dieser Bereich beschäftigte die anwesenden Tierschützer*innen maßgeblich, wie auch in vielen Gesprächen in Bonn und bei der Fishbowl-Diskussion am Vorabend deutlich wurde. Während dieser hatten die Anwesenden die Gelegenheit, spontan auf dem Podium mit den Präsidiumskandidat*innen zu diskutieren. Der Tenor aller war eindeutig: Die Tierheime sind am Limit, wie auch der Dachverband seit Langem mahnt. Vielerorts droht der Zusammenbruch des praktischen Tierschutzes. „Die Tierheime sind von den Kommunen, den Ländern und dem Bund als Ausputzer staatlichen Versagens missbraucht worden“, erklärte auch Schröder in seiner Rede. „Über lange Jahre, Jahrzehnte, so ehrlich müssen wir sein, sind wir noch zu oft der emotionalen Erpressung erlegen. So nach dem Motto: ‚Ihr Tierschützer*innen nehmt doch eh jedes Tier, auch wenn euch das Geld fehlt.‘“ Darum rief der Präsident die Mitgliedsvereine auf, mehr Härte zu zeigen und Aufnahmestopps zu verhängen, wo es nötig ist. So werde die Brisanz spürbar und zwinge die Bürgermeister*innen sowie Landrätinnen und Landräte zum Handeln.
„Ohne uns können die Veterinärämter ihre Aufgaben nicht erfüllen.“ Als Dachverband steht der Deutsche Tierschutzbund seinen Mitgliedsvereinen vor Ort stets zur Seite, wie auch Schatzmeister Plinz berichtete: Durch direkte finanzielle Hilfen in Millionenhöhe, durch Beratungsleistungen und Sachspenden. Am Tag vor der Mitgliederversammlung vergab der Verband zudem weitere fünf Tierhilfewagen an Mitgliedsvereine aus ganz Deutschland, die geräumig und auf ihre Bedürfnisse wie etwa für den Transport von Tieren zugeschnitten sind. Mittlerweile sind es insgesamt 229, mit denen er sie unterstützt hat. Die Tierheime selbst könnten die Anschaffungskosten kaum noch allein tragen, weil ihre Rücklagen meist aufgebraucht sind. „Unser bisheriges Fahrzeug nennen wir liebevoll Schrotty und hoffen jedes Mal innerlich, dass es überhaupt nochmal durch den TÜV kommt“, berichtet Marion Nobis, erste Vorsitzende des Tierschutzvereins Minden und Umgebung, die sich dank des neuen Wagens über einen echten „Komfortgewinn“ für die transportierten Tiere und ihre Mitarbeiter*innen freut. „Heute ist ein schöner Tag“, befand auch Adrian Maas, erster Vorsitzender des Tierschutzvereins Salzgitter und Umgebung, bevor er sich hinters Steuer setzte. „Das ist eine wirklich große Hilfe und sehr unkompliziert über den Deutschen Tierschutzbund gelaufen.“
Die Reaktionen der Vereine zeigten, wie wertvoll solche Aktionen für sie sind. Doch es darf nicht sein, dass der Dachverband und die Tierschützer*innen vor Ort die riesigen Herausforderungen etwa durch explodierende Kosten bei steigenden Tierzahlen allein stemmen müssen.
Schröder appellierte nicht nur an die Vereine, vor Ort härter zu verhandeln, sondern wendete sich in seiner Rede auch an die Bundesregierung. „Wenn in Deutschland Jahr für Jahr insgesamt knapp 14 Milliarden Subventionen an diejenigen verteilt werden, die Tiere halten, damit sie getötet und verzehrt werden, warum habt Ihr dann kein Geld für die, die das Leben von Tieren retten und ihnen ein neues Zuhause suchen?“
Um die Notlage der Tierschutzvereine zu unterstreichen, verabschiedeten die Delegierten einstimmig zwei Resolutionen zu Tierheimen und zum Koalitionsvertrag. So fordert die Mitgliederversammlung des Deutschen Tierschutzbundes die politisch Verantwortlichen in Kommunen und Landkreisen, den Ländern und im Bund dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht und endlich aktiv zu werden. Zu den notwendigen Maßnahmen gehöre eine Heimtierschutzverordnung, die etwa einen Sachkundenachweis für Tierhalter*innen oder die Kastration von Freigängerkatzen verbindlich vorschreibt. Dies würde helfen, die Zahl der abgegebenen Tiere und Straßenkatzen merklich zu verringern. Auch der Onlinehandel mit Tieren müsse unterbunden werden. Außerdem fordern die Mitgliedsvereine des Deutschen Tierschutzbundes gemeinsam eine ausreichende, kostendeckende Erstattung der Aufgaben des praktischen Tierschutzes vor Ort. „Das umfasst neben den Tieren im Tierheimbetrieb auch die frei lebenden Katzen und Wildtiere, die durch den Tierschutz betreut werden, Beschlagnahmungen und Sicherstellungen sowie weitere, vielfach auch zur Entlastung der örtlichen Veterinärämter erbrachten Leistungen“, heißt es in der Resolution.
Die im Koalitionsvertrag versprochene Verbrauchsstiftung müsse unverzüglich kommen, um in die Tierheim-Infrastruktur zu investieren. Dem Koalitionsvertrag widmete sich auch die zweite Resolution. In ihr verwies die Mitgliederversammlung auf weitere, bislang nicht umgesetzte tierschutzpolitische Versprechen aus den Vereinbarungen der Ampelregierung. Als dringlichste Maßnahme mahnten die Tierschützer*innen an, das Tierschutzgesetz neu zu formulieren. Dabei müsse das Ziel erreicht werden, Tiere deutlich besser zu schützen und nicht wie bisher allein deren Nutzen zu regeln. „Leiten Sie endlich den dringend notwendigen Umbau der Tierhaltung ein. Wir fordern, den Konsum und die Produktion tierischer Lebensmittel bis zum Jahr 2030 um 70 Prozent zu reduzieren und die Ernährungspolitik deutlich stärker auf pflanzliche Ernährung auszurichten. Für die Tiere, das Klima, die Natur und die Gesundheit.“ Beide Resolutionen verabschiedete die Mitgliederversammlung einstimmig. „Vielen Dank, das ist ein starkes Signal, das uns in Berlin hilft“, sagte Schröder im Anschluss. Mit diesem geschlossenen Statement für die politischen Gespräche zeigen die vielen Vereine aus ganz Deutschland, die dem Dachverband angehören und sich in Bonn intensiv über die aktuelle Notlage und Wege daraus austauschten, dass sie das große übereinstimmende Ziel vereint: Gemeinsam für den Tierschutz.
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