Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER
Egal wohin der Blick fällt, in den Räumen, auf dem Boden und in den Gängen steht ein Gehege neben dem anderen. In allen sitzen Kaninchen – manche blicken einen neugierig an, andere knabbern genüsslich an ihren Salatblättern. Anja Langer, Leiterin des Tierheims Bielefeld, das dem Deutschen Tierschutzbund angeschlossen ist, geht durch die Räume des Kleintierhauses und tauscht sich mit ihren Mitarbeitern aus. Diese verteilen gerade Futter und schauen nach ihren Schützlingen. Ihre Sorgen sind Langer anzusehen. „Jede Box ist belegt. Auch die Quarantänestation ist überfüllt und sogar die Meerschweinchengehege nutzen wir inzwischen für die Kaninchen.“ Dass die Tierpfleger zurzeit mehr als 100 Kaninchen, etwa doppelt so viele wie sonst, betreuen müssen, führt die Tierschützerin unter anderem auf Corona zurück. Denn zahlreiche Familien hätten sich während der Pandemie unüberlegt die vermeintlichen Anfängertiere angeschafft, um etwa ihren Kindern während des Lockdowns etwas Abwechslung zu bieten. „Viele Halter sind sich aber nicht bewusst gewesen, wie viel Pflege auch Kaninchen benötigen und dass sie zum Beispiel täglich ihre Gehege reinigen müssen“, schildert Langer. Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Kaninchen, die sich zurzeit in der Obhut des Tierheims befinden, um Fundtiere, also Tiere, die beschlagnahmt wurden oder in Not geraten sind, – denn für Abgabetiere reichen die Kapazitäten schon lange nicht mehr aus. Manche wurden ausgesetzt, etwa auf Spielplätzen und in Wohngebieten, oder in Kartons und Wäschekörben vor dem Tierheim abgestellt. „Einige waren in einem extrem schlechten Pflegezustand und hatten viel zu lange Nägel oder waren abgemagert“, sagt Langer. Neben der durchaus aufwendigen Pflege würden Halter oft auch die anfallenden Kosten unterschätzen, so die Tierschützerin. „Heute rief zum Beispiel eine Frau verzweifelt bei uns an, die Angst hat, sich die Kosten für das Futter und den Tierarzt nicht mehr leisten zu können.“ Mit dieser Angst ist die Halterin bei weitem nicht allein – dieser Tage häufen sich solche Anrufe, berichtet Langer.
Die explodierenden Energiepreise, durch die Inflation gestiegene Futterkosten sowie höhere Tierarztkosten treffen jedoch nicht nur Tierhalter besonders hart, sondern vor allem auch die Tierheime. Tatsächlich ist ihre Lage so dramatisch wie nie zuvor. Der Deutsche Tierschutzbund beobachtet schon seit Monaten, dass sich die Tierheime bundesweit durch „Coronatiere“ und Tiere aus illegalem Welpenhandel sowie Animal-Hoarding-Fällen überfüllen und sie an ihre Belastungsgrenzen stoßen – die wirtschaftliche Entwicklung infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und ein Rückgang von Spenden haben die Situation noch einmal deutlich verschärft. Seit vergangenem Sommer schlägt der Deutsche Tierschutzbund daher als Dachverband von rund 740 örtlichen Tierschutzvereinen mit mehr als 550 vereinseigenen Tierheimen und Auffangstationen Alarm und warnt vor nicht weniger als einem Kollaps des karitativen Tierschutzes in Deutschland. Zum Welttierschutztag am 4. Oktober rief der Verband mit seinen Mitgliedsvereinen das Leitmotto „Tierheime am Limit“ aus und forderte Politik und Gesellschaft zur Rettung der Tierheime auf. Auch das Parlamentarische Tierschutzfrühstück des Verbandes stand im Zeichen der Tierheime. „Oft verlassen sich Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit wie selbstverständlich darauf, dass Tierheime Anlaufstellen für Tiere und Tierhalter in Not sind. Das aber kann angesichts der prekären Lage vielerorts kaum noch gewährleistet werden“, mahnt Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes. „Die politische Ignoranz der letzten Jahre dem praktischen Tierschutz gegenüber hat die Lage dramatisch zugespitzt.“ Bund, Länder und Kommunen müssten nun gemeinsam helfen, so Schröder. Andernfalls sei zu befürchten, dass viele Tierheime den Winter nicht überstehen.
– Anja Langer
„Mittlerweile kommen so viele Tiere in den Tierheimen an, dass diese immer öfter Aufnahmestopps verhängen müssen“, bestätigt Dr. Patrick Kluge, Leiter der Tierheimberatung beim Deutschen Tierschutzbund. Dabei ist nicht nur die enorme Anzahl an Tieren eine Herausforderung, sondern auch ihr hoher Pflegebedarf. Hunde sind Kluge zufolge oft besonders betreuungsintensiv, etwa, weil sie – vermehrt in Coronazeiten – als Welpen aus tierschutzwidrigen Zuchten illegal nach Deutschland geschmuggelt wurden, oder weil ihre Vorbesitzer im Umgang mit Hunden vollkommen unerfahren und überfordert waren. Ähnliche Erfahrungen hat auch Langer gemacht. „Wir beherbergen zurzeit zwar nicht so viele Hunde, aber die, die wir haben, haben kaum eine Chance auf eine Vermittlung – zum Beispiel sind einige von ihnen nicht kompatibel mit anderen Hunden, deswegen müssen wir sie einzeln unterbringen.“ Andere Tiere seien zudem von Natur aus Wach- oder Herdenschutzhunde und zum Beispiel darauf gezüchtet, auf Schafherden aufzupassen. „Solche Tiere sind keine Familienhunde, die in eine Doppelhaushälfte passen“, so Langer. „Wöchentlich erhalten wir ein bis zwei Anfragen von Haltern, die ihre Hunde bei uns abgeben möchten, auch von überregional – dafür haben wir jedoch keine Kapazitäten mehr, da wir auch häufig Notfälle bekommen.“ Etwa Hunde, deren Halter sich nicht mehr um sie kümmern konnten, da sie plötzlich selbst auf Pflege angewiesen waren. Hunde aus illegalem Welpenhandel, die bei ihrer Beschlagnahmung oft krank und entkräftet sind, müsse das Tierheim ebenfalls immer wieder aufnehmen.
Neben der kaum zu stemmenden Anzahl an Tieren kommt für die Tierheime die finanzielle Angst hinzu. Ihre Wirtschaftslage war schon immer überaus kritisch, Rücklagen oft kaum vorhanden – die explodierenden Kosten haben ihre Situation jedoch noch einmal deutlich verschärft. Hohe Preise für Futter, Einstreu und Heu setzen die Tierheime derzeit ebenso unter Druck wie die rasant steigenden Kosten für Strom und Gas. Zum Beispiel verfügen zahlreiche Tierheime nur über schlecht isolierte Altbauten und für eine energetische Vorsorge hat das Geld ohnehin nie ausgereicht. Das Tierheim Bielefeld besitzt zwar eine Photovoltaikanlage und auch den Öltank haben die Tierschützer vorausschauend bereits im April aufgefüllt. Trotzdem bleiben die Energiekosten auch für sie hoch, beispielsweise durch die täglich anfallende Wäsche. „Unsere Waschmaschinen fassen 20 Kilogramm Wäsche pro Waschgang und laufen acht Stunden am Tag“, so Langer. Vor allem Decken und Handtücher aus den Quarantänestationen der Hunde und Katzen müssen die Mitarbeiter regelmäßig reinigen. Auch die Heizung könne sie nicht einfach herunterdrehen, schildert die Tierheimleiterin. „Zum Beispiel ist es wichtig, dass es im Katzenhaus warm genug bleibt, weil die Katzen sonst schnell Schnupfen bekommen.“
Warme Temperaturen benötigen derweil auch Exoten wie Reptilien, Amphibien oder Spinnen – sie müssen beispielsweise mit energieintensiven Wärmelampen bestrahlt werden, was ebenfalls besonders kostspielig ist. „Wenn der Strompreis auf 50 Cent pro Kilowattstunde steigt, wird bei der Haltung einer Bartagame allein die UV-Beleuchtung mit jährlich rund 230 Euro zu Buche schlagen. Hinzu kommen weitere Betriebskosten für Tagesleuchten und andere technische Geräte“, schildert Patrick Boncourt, Referent im Tierschutzzentrum Weidefeld des Deutschen Tierschutzbundes. So käme man für eine kleine Echse schnell auf 500 bis 800 Euro pro Jahr. Der Verband sieht die Haltung von Exoten ohnehin kritisch und befürchtet nun, dass sich einige Besitzer dieser anspruchsvollen Tiere die hohen Haltungskosten künftig kaum noch leisten können und sie vermehrt abgeben oder aussetzen. Insbesondere die zahlreichen kleineren Tierheime, die meist nicht auf die Unterbringung und Versorgung exotischer Reptilien-, Papageien- oder Säugetierarten vorbereitet sind, würde diese Entwicklung hart treffen. Das Tierheim Süderstraße des Hamburger Tierschutzvereins von 1841 (HTV), Mitgliedsverein des Deutschen Tierschutzbundes, gehört zwar zu den größten Deutschlands und verfügt auch über viel Erfahrung mit Exoten.
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Doch die jüngsten Entwicklungen bereiten selbst den Hamburger Tierschützern Sorgen. „In einer Woche kamen allein vier Königspythons, drei frisch geschlüpfte Bartagamen und vier Wasserschildkröten zu uns – allesamt ausgesetzt“, berichtet Dr. Urte Inkmann, Tierheimleiterin und leitende Tierärztin des HTV. Während ein Mitarbeiter die Königspythons in einer Plastikbox auf dem Parkplatz des Tierheims vorfand, wurden die Schildkröten in einem Maurerkübel in Hamburg-Hamm gefunden, die drei Bartagamen in einem Karton in einem Einkaufszentrum in Hamburg-Osdorf. Während die Zahl der zu betreuenden Exoten steigt, bleiben die Anfragen von erfahrenen Interessenten, die den Tieren ein neues artgerechtes Zuhause schenken könnten, in vielen Tierheimen allerdings mau. Auch der HTV erhalte kaum Vermittlungsanfragen für die Exoten, so Inkmann. „Die Terrarien unserer Exotenstation sind voll – teilweise mit Tieren, die dort seit über fünf Jahren auf ein neues Zuhause warten.“
Nicht nur durch die Inflation sind die Ausgaben gestiegen, auch die tierärztlichen Behandlungen sind teurer geworden. Denn seit dem 22. November gilt eine neue Gebührenordnung für Tierärzte – diese ist ein Bundesgesetz und regelt einheitlich, wie viel sie für ihre Leistungen berechnen dürfen. Es ist die erste umfassende Novellierung seit 1999. Eine allgemeine Untersuchung von Hunden oder Katzen beispielsweise kostet nun 23,62 Euro. Vorher mussten Halter 13,47 Euro für die Untersuchung ihres Hundes zahlen und 8,98 Euro für ihre Katze. „Sowohl die Anforderungen an die Tierärzte als auch die Praxisgebühren sind in den vergangenen Jahren gestiegen, weshalb eine Novellierung schon lange geplant und erforderlich war. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn eine Anpassung in kleinen Schritten über die letzten Jahre stattgefunden hätte“, sagt Kluge.
So stellt der höhere Anstieg die Tierheime und weniger gut situierte Tierhalter jedoch vor Probleme. Grundsätzlich begrüßt der Deutsche Tierschutzbund zudem die Erhöhung des Mindestlohns, da jeder einzelne Mitarbeiter in Tierheimen wertvolle Arbeit leistet und das entsprechend vergütet werden muss. Aber auch die Personalkosten sind natürlich ein Faktor, der finanziell erstmal gestemmt werden muss. Der HTV sieht die Anhebung des Mindestlohns jedoch auch als Chance: „Wir haben in diesem Jahr bewusst unsere Tarifstrukturen geändert und die Gehälter angepasst, da es uns sehr am Herzen liegt, unsere Mitarbeiter fair zu entlohnen. Insbesondere in der Tierpflege sind die Anhebungen längst überfällig gewesen“, sagt Inkmann. „Eine bessere Bezahlung ist in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels für uns unabdingbar, um neues Personal zu gewinnen und bereits Beschäftigte zu halten.“
– Dr. Urte Inkmann
Um generell alle anfallenden Kosten einigermaßen abzudecken, sind die meisten Tierheime auf Spenden angewiesen – doch angesichts der wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Monate müssen die meisten Menschen sparen, und so bleiben diese mehr und mehr aus. Das beobachtet auch Langer: „Die Spendenbereitschaft ist rückläufig, ganz klar.“ Ähnlich ist die Lage beim HTV: „Genau sagen können wir das erst, wenn unser Jahresabschlussbericht fertiggestellt ist. Nach unserem Gefühl der letzten Wochen und Monate gehen wir jedoch davon aus, dass die Spendenbereitschaft gesunken ist. Auch einige Kündigungen von Mitgliedern mussten wir seit der Belastung durch die Inflation bereits verkraften“, sagt Inkmann. All diese Probleme – die finanziellen Sorgen und die riesige Zahl an zu betreuenden, oft kranken oder vernachlässigten Tiere – sind sowohl physisch als auch psychisch enorm belastend für die Tierschützer. „Wir haben zurzeit einen sehr hohen Krankenstand – ohne unsere ehrenamtlichen Helfer würde all das nicht gehen“, berichtet Langer. „Unsere Tierpfleger tun hier alles für unsere Tiere, aber der Tierheimalltag zehrt trotzdem an den Nerven.“
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Tierheime und ihre Mitarbeiter weiterhin derart belastet werden. Denn durch ihr haupt- und ehrenamtliches Engagement nehmen sie in unserer Gesellschaft eine unverzichtbare Rolle ein. Tag für Tag versorgen sie aufopferungsvoll jedes einzelne Tier in ihrer Obhut und füllen das Staatsziel Tierschutz mit Leben. Damit der praktische Tierschutz in Deutschland nicht zusammenbricht, müssen wir jetzt alles in Bewegung setzen, um den Tierheimen zu helfen. Der Deutsche Tierschutzbund fordert daher einen umfassenden Rettungsplan, bevor es zu spät ist. „Wir brauchen eine konzertierte Aktion für die Tierheime: Bund, Länder und Kommunen müssen schnellstens mit dem Tierschutz an einen Tisch“, betont Schröder. Unter anderem ist es wichtig, dass die Kommunen endlich die Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Fundtieren vollständig erstatten – eine Pflichtaufgabe, die sie schon seit Jahren vernachlässigen. „Notwendig sind eine Erhöhung der Fundtierkostenerstattung um mindestens 40 Prozent und weitere Investitionshilfen“, so Schröder. In zahlreichen Gesprächen mit sämtlichen politischen Kontakten und Ministerien, aber auch mit seiner Kampagne „Tierheime helfen. Helft Tierheimen!“ und weiterer Öffentlichkeitsarbeit nimmt der Deutsche Tierschutzbund die politisch Verantwortlichen in die Pflicht. Von der Bundesregierung erwartet der Verband ebenfalls umfangreiche Hilfsmaßnahmen. „Es braucht einen hinreichend ausgestatteten Sondertopf, mit dessen Hilfe die Tierheime die massiv gestiegenen Betriebskosten stemmen können“, mahnt Schröder. Die Tierheime bekommen diese Mehrkosten – trotz vieler Appelle an die Politik – nicht ausgeglichen. Die fünf Millionen Euro, die in den Bundeshaushalt für die Versorgung und Betreuung von Tieren Geflüchteter eingestellt wurden, begrüßt der Verband. Sie sind aber angesichts der desolaten finanziellen Lage vieler Tierheime letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem muss die Regierung die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verbrauchsstiftung für Tierheime großzügig ausstatten und unverzüglich auf den Weg bringen, um die energetische Ausbau von Kranken- und Quarantänestationen zu ermöglichen. Abhilfe schaffen würden nicht zuletzt weitere überfällige Maßnahmen, die der Deutsche Tierschutzbund schon lange fordert – zum Beispiel sollte die Politik sowohl eine Heimtierschutzverordnung als auch einen Sachkundenachweis für Hundebesitzer einführen. Ebenso ist es unerlässlich, dass sie den unkontrollierten Onlinehandel mit Tieren unterbindet und eine Positivliste zur Tierhaltung in privater Hand erlässt.
– Thomas Schröder
Helfen kann aber auch jeder Einzelne. Wer Tierheime beispielsweise ehrenamtlich unterstützen möchte, kann mit den Tierheimhunden spazieren gehen oder bei handwerklichen Arbeiten mit anpacken. Auch Appelle an die politischen Abgeordneten sind hilfreich. Zudem freuen Tierheime sich über Futter- und Geldspenden. Nicht zuletzt ist natürlich auch jeder Mensch eine große Unterstützung, der ein Tierheimtier adoptiert und ihm langfristig ein schönes, liebevolles Zuhause gibt. Sorgen wir also alle gemeinsam dafür, dass die Tierheime auch in Zukunft ihrer wertvollen Arbeit nachgehen und Tiere in Not retten können – und das, ohne dabei an ihr Limit zu kommen.
Bildrechte: Artikelheader: Deutscher Tierschutzbund e.V. - Martin Ziemer (Hund und Pfleger); Fotos: Deutscher Tierschutzbund e.V. (Frau mit Hund, Chinchilla, Kaninchen); Hamburger Tierschutzverein von 1841 e.V. (Echse, Pfleger mit Hund, Katzen); Deutscher Tierschutzbund e.V. – Kristina-Steiner (Schlange); www.tomasrodriguez.de (Hahn)