Die Kehrseite der Medaille

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Die Kehrseite der Medaille

Harmonie zwischen Reiter und Pferd zu erreichen, das ist das Ziel der klassischen Reitausbildung. Der Alltag sieht in der Realität oft anders aus – die Grenzen zwischen Sport und Tierquälerei verschwimmen.

  • Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER

Das wohl bekannteste internationale Reitturnier in Deutschland ist mit rund 300.000 Besuchern jährlich der CHIO in Aachen. Im Juli dieses Jahres treten dort Reiter und Fahrer aus 30 Nationen mit 550 Pferden an. Alleine der Große Dressurpreis ist mit 150.000 Euro dotiert. Leider sind mit einem solchen Turnier Verstöße gegen den Tierschutz vorprogrammiert. Schließlich bewerten die Richter nur das, was sie im Dressurviereck oder im Springparcours sehen. Das, was auf dem Abreiteplatz geschieht, auf dem die Reiter ihre Pferde für die Prüfung vorbereiten, findet wenig Beachtung. Die dort abgestellten Richter sehen oft einfach weg.

Dieser Reiter übt mit den Sporen starken Druck aus. Es kommt sogar vor, dass Reiter ihre Pferde dabei blutig stechen.

Dieser Reiter übt mit den Sporen starken Druck aus. Es kommt sogar vor, dass Reiter ihre Pferde dabei blutig stechen.

Pferde als Sportgeräte

Den Pferden, die einmal auf einem solchen Turnier starten sollen, steht ein steiniger Weg bevor. Drei Jahre sind die meisten alt, wenn ihre sportliche Laufbahn beginnt. Von nun an gibt die Deutsche Reiterliche Vereinigung (Fédération Equestre Nationale, kurz FN) die ideale Ausbildung vor. Neben den „Richtlinien für Reiten und Fahren“ definieren Turnierprüfungen und -richtlinien das, was die Pferde können sollen. Und schon beginnt das Dilemma.

Pferde wachsen, bis sie sieben Jahre alt sind. Allein deshalb können sie anfangs nicht immer das leisten, was die Reiter verlangen. Doch der Druck ist hoch. Für eine schonende Ausbildung, die sich nach den Richtlinien der FN und der individuellen physischen und psychischen Reife der Pferde richtet, ist oft schlichtweg keine Zeit. In vielen Turnier- und Ausbildungsställen muss ein Einzelner täglich bis zu 15 Pferde reiten. Sie werden schnell aus der Box gezogen, kaum aufgewärmt und müssen dann innerhalb von Minuten Höchstleistung bringen und schnell Fortschritte zeigen.

Kann ein Pferd in jungen Jahren nicht das, was erwartet wird, und sammelt es nicht schon jetzt entsprechende Turniererfolge, wirft es beim Verkauf nicht genügend Gewinn ab. Im Reitsport stecken Millionen. Die Preise für Pferde im Spitzensport fangen bei Zehntausenden Euro erst an – aber nur, wenn sie erfolgreich sind. Es gibt viele Menschen, die sich liebevoll um ihre Pferde kümmern, sie schonend ausbilden und ihren arteigenen Bedürfnissen genügend Raum geben. Allerdings ist die Anzahl derjenigen, für die ein Pferd nur ein Prestigeobjekt und eine Gelddruckmaschine ist, erschreckend hoch.

Schneller, höher, weiter

Dressurpferde müssen möglichst ausdrucksvoll und spektakulär strampeln, Springpferde über immer höhere Hindernisse springen. Die ideale Ausbildung liegt oft in weiter Ferne. Auf dem Weg nach oben werden viele Pferde „verheizt“ – sowohl körperlich als auch seelisch. Wenn sie Glück haben, landen sie anschließend bei einem liebevollen Besitzer. Haben sie Pech, gehen sie noch durch viele Hände, die alle versuchen, aus ihnen doch noch ein erfolgreiches Turnierpferd zu machen. Andere sind gesundheitlich völlig ruiniert.

In dieser Zwangshaltung, auch Rollkur genannt, erleidet das Pferd körperliche und seelische Schmerzen.

In dieser Zwangshaltung, auch Rollkur genannt, erleidet das Pferd körperliche und seelische Schmerzen.

Ob im Profi- oder Amateurbereich, ob bewusst oder durch Unkenntnis – es gibt genügend Methoden, die die Grenzen zur Tierquälerei überschreiten. So ist die höchst umstrittene „Rollkur“ nach wir vor in vielen Ställen und auf Turnieren zu sehen; auch auf dem CHIO Aachen.

„Bei dieser Methode zieht der Reiter den Kopf des Pferdes so weit nach unten, dass das Maul fast die Brust berührt. Angeblich soll dies gymnastizierend sein, in Wirklichkeit erleidet das Pferd in dieser Zwangshaltung nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen“, so Dr. Esther Müller, Referentin für Equiden beim Deutschen Tierschutzbund. Dennoch ist die Rollkur sowohl von der FN als auch von der Internationalen Dachorganisation des Pferdesports weiterhin zugelassen. Lediglich der Name wurde wohlklingender in „Hyperflexion“ geändert.

Tierquälerei ist kein Kavaliersdelikt

Ertappte Dopingsünder dürfen oft nach nur kurzen Sperren wieder auf Turnieren starten. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte Blistern. Um Pferde zum höheren Springen zu animieren, reibt man sie oberhalb ihrer Hufe oder an der Vorderseite ihrer Beine mit einer speziellen Salbe ein. Der darin enthaltene Wirkstoff Capsaicin, der aus der Cayennepfefferschote gewonnen wird, fördert in der Humanmedizin bei muskulären Beschwerden die Durchblutung.

In hoher Konzentration tritt ein brennender, stechender Schmerz ein. Die Pferdehaut entzündet sich und wird hypersensibel. Berührt das Pferd damit die Stange eines Hindernisses, empfindet es dies als sehr schmerzhaft und springt beim nächsten Mal höher.

Ideal und Realität

Die Grundsätze, die die FN der Ausbildung als Ideal zu Grunde legt, werden in Reitställen und auf Turnierplätzen häufig missachtet. Doch wie sieht das Ideal aus? Lesen

Ob mit Gewalt zum Sprung oder zur Dressurlektion gezwungen – Pferde sind ihren Reitern hilflos ausgeliefert. „Die Methoden widersprechen jeglichem Mitgefühl für die Tiere und sind zudem vollkommen unnötig. Es ist möglich, Pferde im Miteinander auszubilden und die Ziele auch ohne Leid und Schmerzen zu erreichen“, so Dr. Müller. Vielleicht dauert es etwas länger und es bedarf etwas mehr Können. Aber es sollte doch das Mindeste sein, Pferde nicht zum austauschbaren Sportgerät zu degradieren, sondern als fühlende Wesen mit eigenen Bedürfnissen anzuerkennen.

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