Ideal und Realität

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Ideal und Realität

Spricht die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) von der Ausbildung eines Reitpferdes „darf darunter keinesfalls ein Abrichten verstanden werden“ – so steht es in den Richtlinien für Reiten und Fahren Band 1. Die Grundsätze, die die FN der Ausbildung als Ideal zu Grunde legt, werden in Reitställen und auf Turnierplätzen häufig missachtet.

  • Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER

Der Artikel „Die Kehrseite der Medaille“ zeigt welchen Druck manche Reiter im Turniersport auf das Pferd ausüben. Neben der darin beschriebenen Rollkur und dem Blistern überschreitet auch das sogenannte Barren die Grenzen zur Tierquälerei. Wie das Blistern soll auch das Barren die Pferde höher springen lassen. Beim aktiven Barren wird die oberste Stange des Hindernisses per Hand oder Fernsteuerung angehoben – allerdings erst dann, wenn das Pferd bereits abgesprungen ist. Da das Pferd das Hindernis zuvor niedriger eingeschätzt hat, springt es gegen die Stange. Die Verletzungsgefahr ist hoch, das Pferd kann sich überschlagen.

Ein Reiter springt mit seinem Pferd einen Parcours auf einem Turnier.

Ein Reiter springt mit seinem Pferd einen Parcours auf einem Turnier.

Beim passiven Barren liegt eine dünne Metallstange über der obersten Stange des Sprungs, die das Pferdeauge kaum wahrnimmt. Auch hier springt das Pferd dagegen und lernt schmerzhaft, das Hindernis höher einzuschätzen, als es eigentlich ist. Ähnliche Wirkungen haben das Anbringen von Kanthölzern und U-Eisen an Stangen sowie das Spannen von Drähten. Die Art und Weise, wie der Lerneffekt des höheren Abspringens erzielt wird, ist mehr als tierschutzwidrig.

Das Barren ist sowohl seitens der FN als auch von der FEI verboten. Auch in den „Leitlinien für Tierschutz im Pferdesport“ des BMEL wird das Barren ausdrücklich verboten. Doch wer kontrolliert, was in den heimischen Reithallen geschieht? Zudem ist das sogenannte Touchieren, bei dem Helfer den Pferden mit der Gerte oder Peitsche im Sprung gegen die Beine schlagen, nach wie vor erlaubt. Aus Sicht des Tierschutzes ist das nicht weniger schlimm als das Barren. Der sanftere Name macht es nicht besser.

Doping im Spitzensport

Auch Doping ist im Reitsport Gang und Gäbe. Dabei reicht die Liste von Reitern auf regionaler Ebene bis hin zu den international bekanntesten und erfolgreichsten Spitzensportlern wie Isabell Werth, Christian Ahlmann oder Marco Kutscher – und das sind nur einige von vielen. Mit dem Zitat „Erlaubt ist, was nicht gefunden wird“ brachte Ludger Beerbaum die Einstellung zum Einsatz von Dopingmitteln im Spitzenreitsport auf den Punkt.

Und das, obwohl die FN Doping innerhalb der neun ethischen Grundsätze ablehnt. In diesen „Ethischen Grundsätzen des Pferdefreundes“ steht, dass der physischen sowie psychischen Gesundheit des Pferdes oberste Bedeutung einzuräumen ist. Das Leistungsvermögen darf weder durch Medikamente, noch durch eine nicht pferdegerechte Einwirkung des Menschen beeinflusst werden. Ein solches Verhalten ist abzulehnen und muss geahndet werden. So sieht es auch das Tierschutzgesetz.

Zwei Pferde genießen die frische Luft und die freie Bewegung auf einer Weide. Es ist wichtig, dass Reiter ihren Pferden genügend Raum für die arteigenen Bedürfnisse geben.

Zwei Pferde genießen die frische Luft und die freie Bewegung auf einer Weide. Es ist wichtig, dass Reiter ihren Pferden genügend Raum für die arteigenen Bedürfnisse geben.

Es ist in keinster Weise ethisch vertretbar, wenn Gewalt und unlautere Methoden das Handeln der Reiter bestimmen oder Reiter ihre Pferde zu Leistungen zwingen, die ihr natürliches Leistungsvermögen übersteigen. Pferde sind fühlende und schmerzempfindliche Tiere. Es sind keine Sportgeräte aus Metall oder Plastik.

Die Skala der Ausbildung

Die „Skala der Ausbildung“ ist das, was sowohl das Pferd als auch den Reiter ein Leben lang, jeden Tag und jede Reitstunde begleiten sollte. Mit dieser Ausbildungsskala gibt die FN das Ideal der Ausbildung und das Ziel vor. Die sechs Punkte Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichten und Versammlung bauen aufeinander auf, wirken miteinander und haben alle ein gemeinsames Ziel: die Durchlässigkeit des Pferdes. Die sechs Punkte der Ausbildungsskala sind sowohl in der Dressur und im Springen, als auch in der Vielseitigkeit und im Fahren relevant.

„Die Ausbildung ist eine systematische Gymnastizierung, bei der es darum geht, das Pferd sowohl in körperlicher als auch in psychischer Hinsicht zur vollen Entfaltung seiner natürlichen Möglichkeiten zu bringen […]“, heißt es in den Richtlinien der FN. Am Anfang der Ausbildung muss das junge Pferd nicht nur die Hilfen des Reiters, sondern auch die körperlichen Fähigkeiten erlernen, sich selbst und die Körpergröße und das Gewicht des Reiters auszubalancieren.

Nur wenn ein Pferd schonend, korrekt und reell ausgebildet und geritten wird, kann das Pferd das Reitergewicht tragen und auf Dauer gesund bleiben. Bei jeglicher Gymnastizierung und Lektion soll dabei unter anderem die Zwanglosigkeit des Pferdes oberstes Kriterium sein. Harmonie zwischen Pferd und Reiter – das ist das höchste Ziel.

Die Ausbildung und die Ausbildungsskala der Reitpferde haben sich über Jahrzehnte entwickelt. In den Richtlinien für Reiten und Fahren der FN sind nicht nur alle Hilfen des Reiters und die Bedürfnisse der Pferde erklärt. Auch die nötigen Schritte, um die sechs Punkte der Ausbildungsskala zu erreichen und ein junges Pferd auszubilden, sind dort detailliert beschrieben. Und all das funktioniert – auch ohne Gewalt. Natürlich gibt es immer eine Lücke zwischen Theorie und Praxis. Jedes Pferd hat andere Voraussetzungen. Was dem einen leicht fällt, fordert das andere Pferd heraus. Es dauert Jahre, bis ein Reiter die Grundlagen beherrscht. Und selbst dann hört der Lernprozess nicht auf – im Gegenteil, er dauert ein Leben lang.

Ein Pferd wälzt sich auf einem Sandpaddock. Erhält das Pferd genügend Ausgleich, macht ihm auch die gemeinsame Arbeit mit dem Menschen Spaß.

Ein Pferd wälzt sich auf einem Sandpaddock. Erhält das Pferd genügend Ausgleich, macht ihm auch die gemeinsame Arbeit mit dem Menschen Spaß.

Reiten ist Kunst

Reiten ist eine Mischung aus Technik und Gefühl. Die Kunst ist es, einerseits das Handwerk der Hilfengebung zu beherrschen und andererseits so einfühlsam zu sein, sich auf jedes Pferd individuell einstellen zu können. Ein guter Reiter muss in der Lage sein, nicht nur seinen eigenen Körper und seine eigenen Hilfen bis ins kleinste zu koordinieren, sondern auch jederzeit auf den Körper des Pferdes eingehen zu können.

Reiten ist die Kunst, das Pferd im Miteinander auszubilden und Harmonie zwischen Mensch und Tier zu erreichen. Die Bedürfnisse der Pferde müssen dabei jederzeit respektiert und erfüllt werden. Wenn Pferd und Reiter so aufeinander abgestimmt sind, dass sie eins werden und das Pferd dabei gesund bleibt und genügend Raum für seine arteigenen Bedürfnisse erhält, dann hat ein Reiter wirklich etwas geschafft.