„Würde unser geltendes Recht konsequent kontrolliert und umgesetzt, wäre bereits vielen Tieren geholfen“

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„Würde unser geltendes Recht konsequent kontrolliert und umgesetzt, wäre bereits vielen Tieren geholfen“

Juristin Dr. Carolin Raspé befasst sich in ihrer Arbeit speziell mit den Rechten von Tieren und plädiert dafür, Tiere im deutschen Rechtssystem auf Basis der Tier-Mensch-Beziehung in Gesellschaft, Ethik und Recht neu zu positionieren und sie als „tierliche Person“ einzustufen. Was das genau bedeutet, erläutert sie im Interview.

  • Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER

Juristin Dr. Carolin Raspé.

Juristin Dr. Carolin Raspé.

Frau Dr. Raspé, welche Stellung nehmen Tiere heutzutage im deutschen Rechtssystem ein?

Tiere sind zwar seit über 30 Jahren formal keine Sachen (§ 90a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) mehr, allerdings werden sie weiterhin rechtlich wie welche behandelt, da die Vorschriften für Sachen auf diese Anwendung finden. Tiere haben positiv-rechtlich derzeit keine eigenständigen Rechte. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche gesetzliche Regelungen – nicht nur im Tierschutzgesetz – die Sonderregeln für Tiere vorsehen und die eine gewisse willentliche Eigenständigkeit, ihr Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit und ihre emotionale Beziehung zum Menschen im Unterschied zu leblosen Sachen explizit anerkennen. Einen Systemwechsel brachte aus rechtlicher Sicht der Artikel 20a des Grundgesetzes (GG) im Jahr 2002. Damit erlangte der Schutz der Tiere Verfassungsrang und ermöglichte seither eine Einschränkung anderer Verfassungsgüter, zum Beispiel der Religions- oder Kunstfreiheit. Bedeutender ist aber aus meiner Sicht noch, dass der Verfassungsschutz der Tiere pathozentrisch ausgestaltet ist. Das bedeutet, die Tiere werden von der Verfassung um ihrer selbst Willen und nicht im Interesse der Menschen geschützt. Diese wichtige Weichenstellung rückt das Tier de facto sehr nah an die Stellung als Rechtssubjekt heran, auch wenn dies gerade nicht intendiert war. Im Ergebnis nimmt das Tier damit im deutschen Recht eine Zwitterstellung ein, die zu vielen Widersprüchen führt.

Werden Tiere aus Ihrer Sicht durch dieses Rechtssystem ausreichend geschützt? Und inwiefern kommt es zu Widersprüchen?

Wie angesprochen war der Artikel 20a GG aus dogmatischer Sicht ein Gamechanger. In der Rechtspraxis und der Lebenswirklichkeit der Tiere hat sich hierdurch jedoch gar nichts geändert. Dem Schutzauftrag, den der Staat durch Artikel 20a GG erhalten hat, wurde leider nicht nachgekommen. Das Tierschutzgesetz ist zwar im weltweiten Vergleich ein differenziertes Regelwerk, jedoch widmet es sich ab seinem Paragraphen 4 weniger dem Tierschutz als vielmehr der Tiernutzung. Als Tiernutzgesetz bietet es die rechtlichen Leitplanken, wie Tiere zu halten, zu schlachten und als wissenschaftliche Versuchsobjekte zu behandeln sind. Nichtsdestotrotz liegen nach meiner Meinung die wesentlichen Probleme weniger auf Gesetzgebungsebene als vielmehr auf der Durchsetzungsebene. Würde unser geltendes Recht konsequent kontrolliert und umgesetzt, wäre bereits vielen Tieren geholfen.

„Dem Schutzauftrag, den der Staat durch Artikel 20a GG erhalten hat, wurde leider nicht nachgekommen.“

– Dr. Carolin Raspé

Der laut Tierschutzgesetz geltende „vernünftige Grund“ erlaubt es in bestimmten Fällen, Tieren zu schaden und sie zu töten – sei es in der Landwirtschaft oder in Versuchslaboren. Ist das aus Ihrer Sicht ethisch vertretbar?

Über das Merkmal des „vernünftigen Grundes“ wurden ganze Doktorarbeiten geschrieben. Kurz gesagt erfordert dieser offene Rechtsbegriff eine Interessenabwägung, wie wir sie an vielen Stellen im Recht kennen, und ermöglicht somit durchaus eine Einschränkung menschlichen Verhaltens. In der Realität ist dieses Merkmal jedoch zu einer absoluten Untergrenze degradiert worden, sodass als „vernünftig“ jedes menschliche Interesse gewertet wird, das nicht als „inhuman“, „brutal“ oder „unnötig“ erachtet wird. Insbesondere wirtschaftliche Interessen, zum Beispiel das Töten von nicht rentabel aufziehbaren Tieren, waren und sind noch heute weitgehend als „vernünftige Gründe“ anerkannt.

Sehen Sie neben den im Recht selbst bestehenden Widersprüchen auch welche in unserem Umgang mit Tieren?

Ja, auch im tatsächlichen Umgang mit Tieren ist unser Verhalten sehr widersprüchlich. Ein eingängiges Beispiel ist die unterschiedliche Behandlung von Nutz- und Heimtieren. Das Recht kennt diese Unterscheidung nicht, sodass einem Hund, der als Versuchstier verwendet wird, grundsätzlich der gleiche Schutz und die gleiche Behandlung zukommen sollte wie dem geliebten Haustier. Dies ist bekanntermaßen regelmäßig nicht der Fall.

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In Ihrer 2013 erschienen Dissertation haben Sie sich mit der „tierlichen Person“ beschäftigt, also einer dritten Rechtspersönlichkeit. Was genau hat es damit auf sich?

Eine tierliche Person würde als dritte Rechtspersönlichkeit neben den natürlichen und juristischen Personen stehen und die Tiere somit von der Seite der Rechtsobjekte (Sachen) über den juristischen „großen Graben“ zu den Rechtssubjekten (Personen) holen. Interdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze, wie so etwas in der Praxis umsetzbar wäre, erarbeiten wir unter anderem in dem neu gegründeten Verein Individual Rights Initiative.

Welche Tiere würden Sie als „tierliche Person“ einstufen?

Mein Vorschlag ist, alle leidensfähigen Tiere als tierliche Personen einzustufen, da ich die Schmerz- und Leidensfähigkeit als das relevante ethische Kriterium für die rechtliche Behandlung von Tieren erachte. Dies würde nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen jedenfalls alle Wirbeltiere umfassen.

Welche Rechte sollte solch eine „tierliche Person“ besitzen?

In Anlehnung an die menschlichen Grundrechte halte ich die folgenden Rechte für Tiere für relevant: Recht auf körperliche Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit. Soweit Tiere in menschlicher Obhut leben, kann zudem an ein „tierliches Existenzminimum“ als Fürsorgerecht gegenüber dem Tierhalter gedacht werden. Das Recht auf Leben – eigentlich das elementarste aller Rechte – halte ich für Tiere auch für notwendig, allerdings mit der Möglichkeit, dieses gegen berechtigte menschliche Interessen abwägen und einschränken zu können.

Denken Sie auch, dass bestimmten Tierarten ähnliche Rechte eingeräumt werden sollten wie Menschen? Zum Beispiel versuchen weltweit manche Tierschützer*innen und -rechtler*innen, Grundrechte für Tierarten wie Menschenaffen, Delfine oder Elefanten einzufordern – also für Tiere, die nachweislich zu komplexen Gefühlen fähig sind. Was halten Sie von solchen Ansätzen?

Die Ansätze und insbesondere die Diskussionen hierum halte ich für wichtig und notwendig. Nur durch öffentlichen Diskurs kann sich die öffentliche Meinung verändern und die Gesellschaft weiterentwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass künftige Generationen eines Tages auf unseren heutigen Umgang mit Tieren mit großem Unverständnis zurückblicken werden.

„Ich bin davon überzeugt, dass künftige Generationen eines Tages auf unseren heutigen Umgang mit Tieren mit großem Unverständnis zurückblicken werden.“

– Dr. Carolin Raspé

Tiere haben auch das Bedürfnis zu leben und wollen Leid vermeiden. Wiegen die Interessen der Menschen im Vergleich dazu schwerer, sodass es aus ethischer Sicht heutzutage noch gerechtfertigt ist, Tiere für unsere Zwecke, zum Beispiel für den Fleischkonsum oder für wissenschaftliche Zwecke, zu „nutzen“?

Wir können nicht leben, ohne mit anderen Lebewesen in Konflikt zu treten. Auch das Recht kennt daher die ständig notwendige Abwägung zwischen den Interessen zweier Rechtssubjekte als eines ihrer Kernelemente. Meiner Meinung nach ist es daher so essenziell, dass Tiere als Rechtssubjekte anerkannt werden, denn erst dann werden ihre Interessen eigenständig in solche Abwägungen eingestellt.

Die konkrete Gewichtung der Interessen hängt immer vom Einzelfall ab. Soweit Tiere und Menschen in Bezug auf das betroffene Interesse vergleichbar sind – zum Beispiel wollen beide gleichermaßen Schmerzen vermeiden –, sollten die Interessen im Grundsatz auch gleichwertig sein, unabhängig davon, ob Interesseninhaber ein Mensch oder ein Tier ist. Zu beachten ist natürlich, dass sich im klassischen Tier-Mensch-Konflikt selten gleiche Interessen, zum Beispiel auf Leben oder Unversehrtheit, gegenüberstehen, sondern dass die menschlichen Interessen oft in einem Genuss-, Erlebnis- oder Unterhaltungsbedürfnis gründen. Ob diese Interessen genügen, die Interessen auf Schmerzfreiheit oder Leben zu überwiegen, muss im Einzelfall beantwortet werden, auch wenn die Antwort in den meisten Fällen nicht allzu schwer fallen dürfte.

„Meiner Meinung nach ist es daher so essenziell, dass Tiere als Rechtssubjekte anerkannt werden, denn erst dann werden ihre Interessen eigenständig in solche Abwägungen eingestellt.“

– Dr. Carolin Raspé

Ich denke als Juristin somit weniger vom Ergebnis her, also ob eine bestimmte Tiernutzung generell gerechtfertigt oder verboten ist. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass eine saubere juristische Interessenabwägung zwischen zwei Rechtssubjekten, deren Interessen bei Vergleichbarkeit zunächst auch gleich zu bewerten sind, zu gerechten – und damit auch ethisch vertretbaren – Ergebnissen führen wird.

Vielen Dank für das Gespräch.