Zeit für einen ethischen Diskurs

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Zeit für einen ethischen Diskurs

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich unser Verhältnis zu Tieren stark gewandelt – während der Mensch sich früher als Krone der Schöpfung verstanden hat, ist einem Großteil der Gesellschaft heute bewusst, dass auch sie empfindsame, schützenswerte Lebewesen sind und die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gar nicht so groß, wie einst angenommen. Trotzdem ist unser Umgang mit ihnen in vielerlei Hinsicht problematisch. Zeit, sich zu fragen: Was ist ethisch noch vertretbar?

  • Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER

Rinder sind sanftmütige Tiere, die Freundschaften und eine enge Bindung zu ihrem Nachwuchs pflegen. Schweine haben einen ausgeprägten Entdeckungsdrang und kommunizieren über mehr als 20 verschiedene Laute mit ihren Artgenossen. Hühner bilden eine starke Gemeinschaft, die sich gegenseitig beim Nestbau hilft, und verfügen sogar über mathematische Fähigkeiten. Heute wissen wir, dass Tiere in der Landwirtschaft ganz eigene Persönlichkeiten haben, weitaus intelligenter sind als früher angenommen, Schmerzen und komplexe Emotionen empfinden. Ihre natürlichen Bedürfnisse werden jedoch weitestgehend ignoriert – es ist Normalität, dass die Agrarbranche Kühe von ihren Kälbern trennt, sie monatelang, in den meisten Fällen das ganze Jahr über, in Ställen anbindet und nur die Allerwenigsten grüne Weiden kennenlernen dürfen. Schweine leben auf engstem Raum auf kargen Betonböden mit Spalten und haben weder Auslauf noch Beschäftigungsmöglichkeiten. Und auch Hühner werden zu Zehntausenden in riesigen Betrieben zusammengepfercht, wo sie weder im Sand scharren oder baden noch nach Körnern picken können und meist nicht einmal Tageslicht haben. All das geschieht, weil die moderne Landwirtschaft auf maximalen Profit ausgerichtet ist – auf das Wohlbefinden der Tiere wird kaum Rücksicht genommen. Immer mehr Menschen fragen sich angesichts dessen: Ist dieser Umgang mit den Tieren ethisch heutzutage überhaupt noch vertretbar?

Milchkühe rufen oft tagelang nach ihren Kälbern, nachdem sie von ihnen getrennt wurden, während die Kleinen als Reaktion darauf nicht selten ihre Nahrung verweigern.

Unser Blick auf die Tiere hat sich gewandelt

Früher kannte man es nicht anders – seit jeher waren wir darauf konditioniert, tierische Produkte zu konsumieren und die (Aus-)Nutzung von Tieren galt als völlig normal. Zudem waren die Lebensumstände noch anders. Es gab nicht die Vielfalt an Pflanzendrinks, Fleisch-Alternativen oder auch Gemüse- und Obstsorten aus aller Welt. Doch heute möchten immer weniger dieses System unterstützen – wir machen uns Gedanken über die Auswirkungen unserer Essgewohnheiten und greifen beim Einkauf häufiger zu veganen Produkten statt zu Fleisch, Milch, Eiern und Co. Unser Blick auf die Tiere hat sich stark gewandelt – und das gilt nicht nur für die Tiere in der Landwirtschaft, sondern auch für den Umgang mit Heim- und Wildtieren oder auch Mäusen, Kaninchen und anderen Arten, die in Tierversuchen leiden und sterben. Ethische Fragen rücken mehr und mehr in den Fokus: Was unterscheidet Mensch und Tier? Was gilt als „vernünftiger Grund“, Tieren Schaden zuzufügen? Warum umsorgen wir Hunde mit all unserer Liebe, indem wir sie pflegen, ihnen Futter und ein schönes Zuhause geben, während wir zugleich akzeptieren, dass Schweine, die ebenso leidensfähig sind, zu den intelligentesten Säugetieren gehören und auch leben möchten, bereits im jungen Alter geschlachtet und gegessen werden? Ist es moralisch überhaupt vertretbar, Tiere für den menschlichen Nutzen zu halten, zu züchten und zu töten?

Von Aristoteles bis Albert Schweitzer

Um sich mit Fragen wie diesen auseinanderzusetzen, hilft ein Blick in die Vergangenheit und auf die Mensch-Tier-Beziehung im Wandel der Zeit. Seit der Neusteinzeit werden Tiere dem menschlichen Willen und Nutzen untergeordnet, und bis heute wird versucht, diese Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. „Diese sogenannte anthropozentrische Herangehensweise, die den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes in den Mittelpunkt stellt, zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte“, sagt Nina Brakebusch, Referentin für Interdisziplinäre Themen beim Deutschen Tierschutzbund.

Seit Jahrtausenden jagt und hält der Mensch Tiere, um sich von ihrem Fleisch, ihrer Milch und ihren Eiern zu ernähren, während er die Haut, die Hörner und Krallen zur Herstellung von Kleidung oder auch Werkzeugen, Waffen und Schmuck nutzt.

„Wann genau der Mensch zudem begann, Wildtiere zu domestizieren, sie also durch Zucht zu verändern, ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Die frühesten fossilen Belege für die Domestizierung der ersten Tierart, nämlich des Grauwolfs, sind etwa 19.000 Jahre alt“, so die Expertin. Etwa seit 12.000 v. Chr. nutzte der Mensch Tiere nicht mehr nur, um sie zu verzehren oder aus ihnen Kleidung herzustellen, sie dienten auch als religiöse Kultobjekte, der Arbeitserleichterung – etwa bei der Jagd, der Feldarbeit oder dem Transport – sowie als Gefährten und Prestigeobjekte. „Philosophische und religiöse Einflüsse wie die Schriften von Aristoteles oder die Ausbreitung der christlichen Lehre untermauerten die Spaltung zwischen Menschen und Tieren“, erläutert Brakebusch. „Doch es gab auch schon früher gegenteilige Meinungen: Der griechische Schriftsteller Plutarch, die Pythagoreer, der im Mittelalter lebende und später heiliggesprochene Franz von Assisi oder auch Leonardo da Vinci betonten die Gemeinsamkeiten von Menschen und Tieren und traten für ihre Schonung ein.“ Dominiert hat allerdings jahrhundertelang der Glaube, der Mensch unterscheide sich durch die „Gott gegebene“ Fähigkeit zur Vernunft von allen anderen Wesen. Auch René Descartes und Immanuel Kant gehörten dieser Strömung an: „Descartes war der Ansicht, dass Tiere im Gegensatz zu Menschen keine Seele oder ein Bewusstsein hätten, da sie weder wie Menschen empfinden noch sprechen könnten“, sagt Brakebusch. Tiere seien demnach dem Handeln des Menschen ohne Einschränkung unterworfen. „Kant erkannte zwar an, dass auch Tiere Schmerzen empfinden können. Dennoch ergäbe sich daraus nicht, dass diese auch moralisch berücksichtigt werden müssen.“ Lediglich im Hinblick auf den Menschen könne sich eine Schonung des Tieres ergeben, so die Ansicht Kants. Wer nämlich Gewalt und Grausamkeit gegenüber Tieren ausübe, stumpfe ab und verrohe, sodass diese Person letztendlich auch anderen Menschen gegenüber grausam handeln könnte. Da Tiere dem Philosophen zufolge im Gegensatz zum Menschen nicht dazu in der Lage seien, sich selbst moralische Gesetze zu geben und nach diesen zu handeln, hätten Tiere auch keine Würde.

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Krone der Schöpfung oder eine Art unter vielen?

„Die Vorstellung, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, begann erst im ausgehenden 18. Jahrhundert zu wackeln“, schildert Brakebusch. „So entwickelte der englische Philosoph Jeremy Bentham 1828 eine neue Form der Ethik, die ohne das Privileg der Vernunft auskommen sollte. Andere wichtige Denker*innen dieser Zeit, wie Arthur Schopenhauer und später im 20. Jahrhundert Albert Schweitzer, gingen noch weiter: Sie betonten, dass Mensch und Tier in ihrem wesentlichen Kern gleich seien.“ 1859 belegte Charles Darwin bereits mit seiner Evolutionstheorie „Über die Entstehung der Arten“, dass die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren weit weniger groß sind als angenommen – nicht durch einen göttlichen Schöpfungsakt entstand die Artenvielfalt, sondern durch die Anpassung an den jeweiligen Lebensraum, die über viele Millionen Jahre durch Variation und Selektion stattgefunden hat. Darwin widersprach somit der Bibel und erschütterte das Weltbild der damaligen Gesellschaft. „Je mehr Biolog*innen und Verhaltenswissenschaftler*innen über unsere nicht-menschlichen Verwandten herausfinden, desto kleiner wird der Graben, den unsere Vorfahren zwischen uns geschaufelt haben“, so Brakebusch. „Heute wissen wir, dass Tiere Gefühle und Interessen haben, und ihnen bewusst ist, was für sie gut ist und was sie vermeiden sollten. Sie verfügen über komplexe Formen der Kommunikation und des sozialen Miteinanders, handeln und denken eigenständig und planen in die Zukunft.“ Zum Beispiel lässt sich Descartes
Argument, Tiere könnten nicht sprechen, widerlegen: Manche Tierarten wie Stare, Krähen oder auch Delfine sind dazu in der Lage, sogar menschliche Worte zu artikulieren. Ebenso wurden Fälle bekannt, in denen in Zoos lebende Elefanten sich bis zu 20 Sätze beibrachten, die sie mithilfe ihrer Rüssel imitierten – da sie einzeln gehalten wurden, gehen Forscher*innen davon aus, dass sie so gezielt Kontakt zu Menschen aufnehmen wollten. Auch dass der Gesang von Buckelwalen eine eigene Grammatik aufweist, wurde inzwischen belegt. Internationale Bekanntheit erlangten außerdem verschiedene Menschenaffen, die in aus Tierschutzsicht kritisch zu sehenden Langzeitexperimenten die Gebärdensprache erlernten. Auch Hühner machen nicht nur Gebrauch von mehr als 30 verschiedenen Lauten, um mit ihren Artgenossen zu kommunizieren, sie sind zudem vorausschauend: Sie beobachten andere Hühner, um von ihnen zu lernen und sich sogar Lösungen für komplexe Probleme bei ihnen abzuschauen. Zudem prägen sie sich Erlebnisse, die gefährlich waren, oder Vorgehensweisen, die zu Futter führten, ein und merken sich diese für die Zukunft. Solche Beispiele zeigen, dass auch Tiere ein Interesse am Leben haben und Leiden verhindern wollen.

Krähen füttern blinde Artgenossen, wenn diese sich nicht selbst versorgen können.

Auch Tiere kennen Normen und Werte

Kriterien wie Sprachfähigkeit, Vernunft, Moral und Empathie, die unsere Gesellschaft ausmachen, sind somit keine exklusiv menschlichen Merkmale. „Schon von klein auf lernen Tierkinder im Spiel die Verhaltensweisen und Etiketten innerhalb einer Gruppe“, so Brakebusch. Sie loten dabei die Grenzen des sozial Akzeptierten ihrer jeweiligen Gruppen aus und entwickeln sich sozial, kognitiv und körperlich weiter. „Tiere handeln ganz und gar nicht rücksichtslos oder willkürlich – die meisten von ihnen fügen sich in die Normen und Werte ihrer Artgemeinschaften, aber auch in die Gemeinschaften mit anderen Spezies wie dem Menschen gut ein.“ Zahlreiche Beobachtungen belegen, dass Tiere moralisches Verhalten zeigen und komplexe Gefühle wie Empathie empfinden. Seien es Delfine, die in Not geratene Tiere und Menschen vor dem Ertrinken retten, Laborratten, die ihnen unbekannten Tieren helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, oder Krähen, die blinde Artgenossen füttern, wenn diese sich nicht selbst versorgen können. Bekannt ist darüber hinaus, dass Elefanten um verstorbene Herdenmitglieder trauern, einander trösten und die Gräber noch über Jahre hinweg besuchen. Milchkühe rufen oft tagelang nach ihren Kälbern, nachdem sie von ihnen getrennt wurden, während diese als Reaktion darauf nicht selten ihre Nahrung verweigern. Und wohl alle Halter*innen können bestätigen, dass auch Hunde mitfühlend sein können und genau wahrnehmen, ob es ihren Besitzer*innen gut oder schlecht geht. Inzwischen versuchen Tierschützer*innen und -rechtler*innen weltweit, bestimmte Tierarten als nicht menschliche juristische Personen anerkennen zu lassen, etwa im Fall von Menschenaffen oder Elefanten – also bei Tieren, die nachweislich zu komplexeren Gefühlen fähig sind. Die internationale Initiative „Great Ape Project“ zum Beispiel fordert für unsere nächsten Verwandten – für Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos – bestimmte Grundrechte ein, die bislang nur für Menschen gelten, etwa ein Recht auf Leben und den Schutz der individuellen Freiheit.

Doch ganz unabhängig davon, ob ein Tier besonders intelligent und zu Vernunft, Moral sowie Empathie fähig ist oder nicht – letztendlich ist jedes Tier schützenswert.

So argumentiert auch die amerikanische Tierethikerin Christine Korsgaard. „Ihr zufolge sind Tiere um ihrer selbst willen zu schützen, weil sie wahrnehmen, empfinden und individuelle Ziele verfolgen, die sie für sich als gut erachten“, so Brakebusch. Egal, ob es zwischen Menschen und Tieren gewisse Unterschiede gebe oder nicht, bedeute das nicht, dass Letztere weniger wert seien. Vielmehr müsse sich unser Handeln danach richten, dass sie das von ihnen angestrebte Leben verwirklichen können.

Hunde können mitfühlen und genau wahrnehmen, ob es ihren Besitzer*innen gut oder schlecht geht.

Moralisch-ethischer Diskurs gefordert

Tiere können nicht selbst für ihre Bedürfnisse einstehen – umso wichtiger ist es, dass wir unsere Stimme für sie erheben. In Deutschland ist vor allem eine grundlegende Novellierung des Tierschutzgesetzes erforderlich. Denn auch wenn der Tierschutz seit 2002 als Staatsziel im Grundgesetz verankert ist und laut Tierschutzgesetz keinem Tier „ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden“ zugefügt werden darf, lässt die Politik nach wie vor große Missstände zu – sowohl bei den Tieren in der Landwirtschaft als auch bei Heimtieren, Wildtieren und Tieren, die für wissenschaftliche Zwecke leiden und sterben. Doch es muss auch auf gesellschaftlicher Ebene ein Diskurs erfolgen, bei dem jede*r das eigene Verhalten aus moralisch-ethischer Sicht reflektiert und abwägt, was vertretbar ist – etwa ob der Wunsch nach dem Verzehr tierischer Produkte noch als „vernünftiger Grund“ gelten kann, Tieren zu schaden, wenn eine ausgewogene Ernährung auch über rein pflanzliche Lebensmittel möglich ist und das vegane Sortiment hierzulande immer weiterwächst. Oder ob wir das Recht haben, Hunde-, Katzen- und andere Tierrassen nach unseren Schönheitsidealen zu züchten, obwohl die gesundheitlichen Folgen für sie gravierend sein können. Ob wir weiterhin Mäuse, Affen, Kaninchen und Co. für wissenschaftliche Zwecke einsetzen dürfen, obwohl es heutzutage bessere, tierversuchsfreie Methoden gibt. Und ob es noch irgendeine Berechtigung dafür gibt, dass Elefanten, Robben und Tiger zu Unterhaltungszwecken Kunststücke in Zirkusmanegen aufführen. Der Deutsche Tierschutzbund argumentiert grundsätzlich wie Tierethikerin Korsgaard: Der Verband sieht seine Vision in einer Gesellschaft, die alle Tiere als Mitgeschöpfe achtet, ihnen Mitgefühl und Respekt entgegenbringt und sie vor Leiden, Schmerzen und Angst bewahrt; die auch frei lebende Tiere als Individuen anerkennt und ihre natürlichen Lebensgrundlagen schützt. „Wir sollten das Interesse der Tiere am Leben wahrnehmen und ihre Bedürfnisse berücksichtigen – ihre Teilnahme und Freude am Leben, ihren Spieltrieb sowie ihre besonderen Fähigkeiten“, betont Brakebusch. „Es ist daher an der Zeit, aus dem hierarchischen System, das uns seit der Jugendsteinzeit begleitet, wieder ein Stück weit zurückzutreten und den Menschen als Teil seiner Umwelt zu begreifen – eine Umwelt, die wie die in ihr lebenden Tiere, um ihrer selbst willen schützenswert ist und nicht nur dann, wenn die Menschheit einen Nutzen daraus zieht.“