Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER
Der Wecker klingelt, es ist fünf Uhr morgens, draußen ist es stockdunkel und es schüttet wie aus Eimern. Aus dem Tiefschlaf gerissen wehrt sich der Körper noch gegen das Wachsein und die Augen kämpfen mit dem Licht. Zu dieser Zeit wachen wohl nur die wenigsten Menschen topfit auf und springen voller Tatendrang aus dem Bett. Anders an diesem Tag. Denn sobald sich der verschlafene Nebel im Kopf verzieht, ist allen klar, heute steht etwas ganz Besonderes an: Mascha, Maya, Ronja, Balou und Serenus ziehen vom Anholter Bärenwald im Westen des Münsterlandes ins 530 Kilometer entfernte Weidefeld an der Ostsee.
Am Park angekommen müssen die ersten Sachen in die Autos, denn zusätzlich zu den Bären kommen Tische, Eimer, Regale und tiefgefrorenes Futter mit. Dann geht es im Dunkeln – noch ist die Hand vor Augen nicht zu sehen – zunächst mit dem Auto, dann zu Fuß durch den Park. Der Rest der Welt scheint noch zu schlafen, in der Ferne sind lediglich vereinzelte Motoren zu hören. Geht alles gut und hält das Wetter? Der Regen ist zum Glück schon weniger geworden und der Wind legt sich. Aber Mist, schon wieder in eine Pfütze getreten. Haben die Bären uns schon gehört? Zu dieser Zeit schlafen sie für gewöhnlich noch gemütlich in ihren Nestern. Die Tierpfleger drehen jetzt eine Runde um die Gehege und rufen die Bären zum Frühstück, während sich alle anderen bei Kaffee, Bananen und Müsliriegeln aufwärmen und stärken.
Im Vergleich zu den letzten Tropfen des Regens und den Vögeln, die mit den ersten Strahlen des Tageslichtes nun langsam anfangen zu zwitschern, erscheinen die eigenen Gespräche ungewöhnlich laut. Werden die Bären zu dieser Uhrzeit schon aufwachen? „Sie wundern sich jetzt, dass hier jemand herumläuft und sie füttern möchte. Das ist nicht ihr üblicher Rhythmus, aber ich hoffe, dass sie sich dennoch locken lassen und gleich hier erscheinen“, sagt Patrick Boncourt, Referent im Tierschutzzentrum Weidefeld und Leiter des Bärenprojekts, gespannt. Er soll recht behalten. Der Appetit von Ronja und Mascha scheint groß genug zu sein, denn sie kommen zügig und gehen gerade, wie jeden Morgen, in ihre Stallungen. Die Transportkisten, die den Bären durch das Klickertraining schon seit Monaten bekannt sind, stehen wenige Meter weiter bereit.
Der erste Schieber öffnet sich, Ronja kommt heraus, biegt zielstrebig um die Ecke und geht schnurstracks den Gang entlang in die Transportkiste, wo Stephanie Schunke, ihre zukünftige Tierpflegerin im Tierschutzzentrum Weidefeld, mit dem Klickertraining beginnt. Sie lässt Ronja die Schnauze öffnen, die Nase nach links und rechts stupsen und belohnt sie mit einem besonderen Snack. „Hühnerhälse passen gut durch die Gitter und die mögen sie wirklich gerne. Dafür machen die Bären fast alles“, so Schunke. Leif-Erik Loth, der gemeinsam mit ihr die Pflege der Bären in Weidefeld übernehmen wird, steht währenddessen schon auf der Kiste, läuft auf dem Dach herum und macht Geräusche mit dem Schieber: „Wir haben die Bären in den letzten Wochen immer wieder an diese Geräusche gewöhnt. Wir möchten, dass sie auch heute wissen, dass ihnen nichts passiert, und sie nicht mit ungewohnten Dingen stressen oder gar verängstigen.“ Schunke gibt das „Go“, Loth lässt den Schieber herunter und Ronja ist drin. „Perfekt. Ich hatte vorher schon zwei Chancen, aber es ist nicht leicht, das richtige Timing zu finden. Immer, wenn ich Ronja gefüttert habe, hatte sie eine Tendenz zum Rückwärtslaufen. Aber es hat geklappt“, sagt Schunke erleichtert. „Sie war unser Wackelkandidat.“
Da der Platz im Gehege begrenzt ist, ist jetzt die pure Muskelkraft aller gefragt. Die Bären wiegen alle zwischen 150 und 200 Kilogramm und die Kisten nochmal genauso viel. Doch das ist nichts, was uns an diesem Tag abschreckt. Zu sechst gelingt es, Ronja in ihrer Kiste zum Transporter zu tragen und dort hinaufzuheben. Geschafft. Der erste Bär ist erfolgreich verladen. Als Nächstes ist Maya dran, die das Ganze schon seit einiger Zeit von ihrem Gehege aus beobachtet. Ist sie verunsichert von dem, was sie sieht? Zumindest zeigt sie es nicht, denn sie kommt direkt, geht in die Kiste und wartet dort schon auf ihre Leckerbissen. „Die liebt das. Die will da am liebsten gar nicht mehr raus“, erzählt Loth. „Maya ist so ambitioniert und motiviert. Sie fragt quasi schon immer: Was soll ich machen? Rechts, links, Maul auf? Sie ist wirklich toll. Ronja ist dagegen eher ein Muffel. So von wegen: Muss ich das jetzt machen?“, schildert Schunke. Die nächsten Handgriffe laufen routiniert, alle packen mit an und Maya ist ebenfalls verladen. Mascha, die Letzte der drei Braunbären, zögert zunächst, nähert sich der Kiste, dreht dann nochmal um, lässt sich schließlich aber doch überzeugen und geht rein. „Besser kann es nicht laufen. Ich bin begeistert“, sagt Schunke.
Jetzt geht es rüber zu den Kragenbären – noch ahnen Balou und Serenus nichts von ihrem bevorstehenden „Flug“ und Transport. Denn das Besondere hier: Die Kisten mit den Bären müssen mit einem Kran über den Zaun gehoben werden – zum Glück hat sich der Wind schon vor Stunden gelegt. Dem Plan soll also nichts mehr im Wege stehen und auch jetzt läuft alles wie am Schnürchen. Beide Bären gehen freiwillig in die Kisten, sind ohne Weiteres verladen und genießen gerade ihre Snacks im Transporter. „Die beiden sind ganz vorsichtig. Sie nehmen die Leckerlis immer ganz sanft mit den Lippen oder der Zunge“, schwärmt Schunke. „Ganz im Gegensatz zu den Braunbären – da muss man schon auf seine Finger aufpassen.“
Die Begeisterung für ihre Schützlinge ist ihr ins Gesicht geschrieben. „Wir sind wirklich froh, dass alle Bären freiwillig in die Kisten gegangen sind“, sagt James Brückner, Leiter der Abteilung Artenschutz beim Deutschen Tierschutzbund, der heute ebenfalls dabei ist. „Aus Tierschutzsicht ist dieses Vorgehen einer Sedierung deutlich vorzuziehen, bei der man nie weiß, wie gut der Körper das verkraftet. Es ist wirklich toll, was unsere Tierpfleger erarbeitet haben.“
Jetzt liegen etwa acht Stunden Fahrt vor uns. Der gesamte Umzug wird von einem Tierarzt begleitet. Die Fahrt verläuft problemlos, weitestgehend ohne Stau, und die Pausen zwischendurch zeigen: Den Bären geht es gut. Um ihnen die Reise zu versüßen, gibt es als Pausensnack Melone. Ob die vorbeifahrenden Menschen wohl erahnen, welch tierische Fracht hier auf einem ganz normalen Rastplatz mitten in Deutschland steht?
Um 20 Uhr erreichen wir das Ziel. „Ich freue mich auf unsere neuen Bewohner und heiße sie herzlich willkommen“, sagt Dr. Katrin Umlauf, Leiterin des Tierschutzzentrums, die voller Neugier vor den Gehegen steht und die Bären schon sehnsüchtig erwartet. Anders als im Bärenwald steht hier ein Gabelstapler bereit, der die Kisten zu den Stallungen bringt. Die letzten Zentimeter übernehmen wieder die tatkräftigen Hände und so wird jeder Bär einzeln in sein neues, frisch eingestreutes Zuhause entlassen.
Maya ist die Erste, tritt direkt aus ihrer Kiste heraus und stapft selbstbewusst durch alle Stallungen hindurch, bis sie bei Schunke ist, die dort schon mit Leckerchen auf sie wartet. Es riecht nach frischem Stroh und die Tiere verströmen einen Duft, der an Wald erinnert. Alle anderen Bären folgen, die Anspannung fällt ab und Erleichterung macht sich breit. „Der Umzug ist ein Sechser im Lotto“, sagt Schunke glücklich. Versorgt mit Wasser und Futter können sich die Bären jetzt von der Aufregung erholen.
Vier Tage später dürfen sie raus in ihre Gehege. „Wir haben ihnen die letzten Tage Zeit gegeben, um in Ruhe anzukommen und sich an die neue Umgebung zu gewöhnen“, erklärt Boncourt. Die Schieber öffnen sich und die Bären treten ins Freie. Sie beschnuppern das Gras, fressen Beeren von den Sträuchern und nehmen ein erstes Bad. „Sie werden die ersten Wochen nun nutzen, um alles zu erkunden, und gehen dann wahrscheinlich in Winterruhe“, sagt Boncourt. Bis an ihr Lebensende können die fünf hier nun ein artgerechtes Leben genießen. Und alle anderen werden bei ihrer nächsten Fahrt auf der Autobahn oder dem Halt an der Raststätte wohl etwas genauer hinsehen – wer weiß, was sich da gerade an Bord befindet.