Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER
Die vollkommene Metamorphose ist eines der erstaunlichsten Ereignisse, das die Tierwelt zu bieten hat. Die berühmte Transformation vom Ei zur Raupe, zur Puppe und schließlich zum ausgewachsenen Tier ist das bekannteste Charakteristikum von Schmetterlingen und Faltern. Tatsächlich durchlaufen neben ihnen auch Bienen, Käfer, Fliegen und Motten die wundersame Verwandlung – insgesamt 75 Prozent der bekannten Insektenarten entwickeln sich innerhalb dieser vier Stadien. Bei der Produktion von Seide machen sich Menschen genau diesen Prozess zu Nutze und haben es dabei vor allem auf die Kokons der Echten Seidenspinner abgesehen, in denen sich die Tiere während ihrer Metamorphose verpuppen. Denn diese bestehen, wie der Name der Tiere bereits vermuten lässt, aus purer Seide. Der Echte Seidenspinner, auch Maulbeerseidenspinner, Maulbeerspinner, Seidenraupe oder Seidenwurm genannt, wird in China bereits seit rund 5.000 Jahren domestiziert. „Bis heute stammt der größte Anteil der weltweit produzierten und verkauften Seide aus der Zucht“, sagt Dr. Stephanie Riederer, Referentin für Interdisziplinäre Themen beim Deutschen Tierschutzbund. Neben China sind Indien, Usbekistan und Vietnam die wichtigsten Erzeugungsländer. Die globale Seidenproduktion erreichte im Jahr 2021 Mengen von 86.311 Tonnen und der Umsatz der Branche wurde 2022 auf rund 9,8 Milliarden US-Dollar geschätzt.
„Die Zucht der Echten Seidenspinner findet üblicherweise in großen, hoch spezialisierten Einrichtungen statt, indenen speziell gezüchtete Seidenraupenelterntiere eingesetzt werden“, so Riederer. In der Produktion öffnen die Züchter*innen die Kokons ausgewählter Tiere kurz vor dem erwarteten Schlupf, entnehmen die enthaltenen Puppen und sortieren diese nach Geschlecht. Wenn aus den Puppen dann im nächsten Schritt Falter schlüpfen – die Tiere schlüpfen auch ohne Kokons –, werden diese zum Zweck der Paarung händisch vermischt. Eine eigenständige Partnersuche ist den Tieren zuchtbedingt nicht möglich, da sie im Gegensatz zu ihren Vorfahren, den Wildseidenspinnern, nicht mehr fliegen können und blind sind. „Die intensive Zucht des Echten Seidenspinners hat diesen in ein hochgezüchtetes ‚Nutztier‘ verwandelt, welches in der Wildbahn nicht mehr überlebensfähig wäre“, kritisiert Riederer. Nach der Paarung legen die weiblichen Tiere jeweils 400 bis 600 Eier auf Papierunterlagen. Mit diesem Vorgang, mit dem sie das Leben der nächsten Generation ermöglichen, endet ihr eigenes – denn sobald sie die Eier abgelegt haben, sterben sie. Die Eier bringen die Züchter*innen jetzt in eine Klimakammer, in der sie den Schlupf mithilfe verschiedener Klimaparameter gezielt auslösen können. Haben sie das Licht der Welt erblickt, werden die Raupen verkauft und von Vertragsbäuerinnen und -bauern in kleineren Betrieben aufgezogen, zum Teil kaufen sie auch schon direkt die Eier und lassen die Tiere selbst schlüpfen.
Die Raupen ernähren sich ausschließlich von Maulbeerbaumblättern. „Um die Massen an Tieren in der konventionellen Seidenproduktion ausreichend ernähren zu können, werden Maulbeerbäume in Monokulturen angepflanzt und bewirtschaftet“, sagt Riederer. „Wie in jeder Monokultur kommen hier zahlreiche Düngemittel und Pestizide zum Einsatz – um nur einen Nachteil zu nennen.“ Durch die Fütterung vervielfältigt sich das Körpergewicht der Tiere um das Zehntausendfache, nach etwa vier Wochen haben sie ein Gewicht von circa fünf Gramm und eine Größe von etwa acht Zentimetern erreicht. Jetzt stellen sie ihre Futteraufnahme von selbst ein, richten sich auf, bewegen den Kopf auf der Suche nach einem geeigneten Platz hin und her und setzen so den Startschuss für die Verpuppung. „Die Raupen des Echten Seidenspinners besitzen vier Unterlippen-Drüsen. Jeweils zwei dieser Drüsen produzieren gleichzeitig einen Faden, der hauptsächlich aus Fibroin und Sericin besteht“, erklärt Riederer. Beim Spinnen der Kokons bewegen sich die Raupen in Form einer Acht und wickeln dabei die Fäden in Schlaufen bis zu 300.000 Mal um sich selbst. Diese beeindruckende Meisterleistung vollbringen die Tiere etwa drei bis vier Tage lang. Bei Kontakt mit der Luft verhärtet sich die Drüsenflüssigkeit, sodass am Ende kugelige, ovale oder längliche Kokons entstehen, die wiederum aus einem einzigen langen Faden Seide bestehen, der jeweils bis zu 3.000 Meter lang ist. Als Abschluss der Verpuppung würde nun normalerweise die Puppenruhe beginnen, an deren Ende, nach circa drei weiteren Wochen, die Falter aus den Kokons schlüpfen.
In der Seidenherstellung wird genau diese Entwicklungsphase durch die Tötung der Puppen verhindert, weil die Falter während des Schlupfs sonst die Kokons aufbeißen und somit die wertvolle Seide beschädigen würden. Getötet werden die Tiere mit heißer Luft oder heißem Wasserdampf. „Bisher gibt es nur wenige Studien zum Schmerzempfinden von Insekten, insbesondere speziell zum Puppenstadium. Allerdings ist bekannt, dass zu diesem Zeitpunkt der Metamorphose bereits das Gangliensystem und die sogenannten Nozizeptoren der Tiere, die für die Wahrnehmung von gewebeschädigenden Reizen zuständig sind, intakt sind“, erklärt Riederer. „In der Summe mit weiteren Indizien ist davon auszugehen, dass die Puppen in diesem Stadium höchstwahrscheinlich dazu in der Lage sind, Schmerz zu empfinden. Beide Tötungsmethoden sind demnach tierschutzwidrig.“ Denn die Hyperthermie, das Überhitzen, führt zu Hitzestress, Krämpfen und am Ende zur Hitzestarre – für die Tiere ist das mit einem minutenlangen Todeskampf verbunden. „Je nach Länge der Hitzeexposition oder auch wenn die Hitze durch übereinanderliegende Kokons nicht gleichmäßig verteilt ist, kann es zudem sein, dass die Tiere zwar tot aussehen, weil sie sich nicht mehr bewegen können, aber nicht tot sind, und es so zu massiven und langanhaltenden Schmerzen kommt.“ Ist die Tötung abgeschlossen, werden die Puppen als Delikatesse für den menschlichen Verzehr verkauft oder zu Tierfutter weiterverarbeitet – das Leid, das hinter der Seidenproduktion steht, findet sich daher nicht nur in der Modeindustrie wieder, sondern versteckt sich auch auf Lebensmittelmärkten oder im Handel mit Futtermitteln für Tiere. Im nächsten Produktionsschritt werden die leeren Kokons gekocht, damit sich durch das heiße Wasser das Sericin, der sogenannte Seidenleim, löst. Erst dann können die Hersteller*innen an die begehrten Seidenfäden gelangen, üblicherweise wickeln sie dafür drei bis acht Kokons gleichzeitig ab, die dann einen gemeinsamen Seidenfaden bilden. Die so gewonnene Rohseide wird jetzt noch mehrmals abgekocht, um den gesamten überschüssigen Seidenleim zu entfernen. Erst anschließend erscheint die Seide in voller Pracht: weiß, glänzend und geschmeidig. Ab jetzt lassen sich die Fäden beliebig einfärben und weiterverarbeiten.
Neben dem massiven Tierleid hat die Produktion von Seide auch weitere Folgen. Denn abgesehen von den Nachteilen der Monokulturen der Maulbeerbäume verabreichen einige Produzent*innen den Echten Seidenspinnern im Herstellungsprozess unter anderem wachstumsfördernde Medikamente, deren Rückstände in der Seide verbleiben können. Da das mehrmalige Auswaschen in der Produktion zu einem Gewichtsund damit Werteverlust der Seide führt, ist es in der konventionellen Herstellung zudem üblich, diesen durch Metallsalze, Kunstharze oder Chemikalien auszugleichen und die Seide mithilfe dieser Stoffe wieder künstlich schwerer zu machen. Darüber hinaus werden die fertigen Seidenstoffe in der Regel noch einmal zusätzlich chemisch behandelt, damit sie wirklich knitterfrei und zudem schmutzabweisend sind. Hinzu kommen zum Teil toxische Chemikalien im Färbeprozess. Alles in allem stecken in der Seide somit am Ende zahlreiche Stoffe, die niemand auf seiner Haut tragen möchte. In der Produktion von Bio-Seide sind die Vorgehensweise des künstlichen Erschwerens sowie die Medikamente verboten, und in den Plantagen der Maulbeerbäume wird auf Mischkulturen Wert gelegt. „Auch in der Tierhaltung gibt es hier weiterführende Vorschriften, wobei der Unterschied vor allem im Futter liegt – der Tötungsprozess bleibt der gleiche“, erklärt Riederer. „Daher lehnt der Deutsche Tierschutzbund sowohl die Produktion von konventioneller als auch von Bio-Seide ab.“
Die einzige Seidenart, die etwas weniger kritisch zu bewerten ist, ist Wildseide. Um diese herzustellen, sammeln die Produzent*innen Kokons ein, die der Wildseidenspinner in der freien Wildbahn angelegt hat. „Allerdings wird der Begriff Wildseide inzwischen für alle Arten Seide verwendet, bei denen die Falter in der Produktion schlüpfen dürfen“, sagt Riederer. So wird unter anderem auch die sogenannte Tussah-Seide als Wildseide bezeichnet. „Bei deren Produktion dürfen die Falter zwar schlüpfen, was danach mit ihnen geschieht, ist aber unklar. Das Gleiche gilt für die sogenannte Friedensseide, bei deren Produktion die Kokons des Götterbaum-Spinners verwendet werden.“ Diese Kokons sehen wollig aus und sind im Gegensatz zu denen der Echten Seidenspinner nicht vollständig geschlossen. Das ermöglicht es den Faltern, entweder ihre Kokons nach der Metamorphose eigenständig zu verlassen oder sich ohne die Kokons zu entwickeln, wenn die Hersteller*innen sie als Puppen aus den Kokons entfernt haben. „Aber auch hier stellt sich die Frage, ob wirklich alle Puppen den Prozess ohne Verletzungen überleben und was mit den Massen an geschlüpften Faltern passiert. Verschiedenen Berichten zufolge gehen wir davon aus, dass auch bei dieser Form der Seidenproduktion jeder Kokon für ein totes Tier steht“, so Riederer. Aus Tierschutzsicht ist daher klar: Keine Seide ist die beste Seide. Nur wer generell auf Seide und Seidenprodukte verzichtet, kann sich sicher sein, keine Tierqual zu unterstützen. Dabei ist es wichtig, nicht nur beim Kleidershoppen die Augen aufzuhalten. Denn kurzfaserige Seidenabfälle werden unter anderem auch zu Seidenpulver verarbeitet und in Kosmetikprodukten als Zusatzstoff eingesetzt – zum Beispiel in Lippenstiften, Hautcremes und Seifen. Darüber hinaus wird inzwischen auch oft das Fibroin, ein Protein in der Seide, aus Seidenresten extrahiert und in Gesichtscremes gegen Falten oder in Anti-Aging-Seren eingesetzt.
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