Handicap-Tiere

So wundervoll wie alle anderen

Im Einsatz für die Tiere
Handicap-Tiere

So wundervoll wie alle anderen

Ihnen fehlt ein Bein, sie sind blind oder querschnittsgelähmt – und damit kein bisschen weniger liebenswert. Sich um Hunde oder Katzen mit Handicap zu kümmern, erfordert ein besonderes Maß an Empathie, Liebe und Fachwissen. Doch es lohnt sich. Denn das, was die Tiere uns zurückgeben, wenn wir ihnen die Chance auf ein schönes Leben geben, ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen.

  • Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER

„Wenn man mit einem Rollstuhl-Hund spazieren geht oder mit ihm rennt und merkt, dass der Hund wesentlich schneller ist, als man selbst, ist das eine ganz besondere Erfahrung.“ Ann-Catrin Schmidt, 1. Vorsitzende des Tierheims Alsfeld, kommt ins Schwärmen, wenn sie von all den Tieren mit Handicap erzählt, die sie schon gemeinsam mit ihrem Team betreut hat. Das Tierheim Alsfeld, das zum gleichnamigen Tierschutzverein gehört und dem Deutschen Tierschutzbund angeschlossen ist, hat in den letzten sechs Jahren allein 60 Hunde mit Handicap aufgenommen, gepflegt, medizinisch versorgt und anschließend in liebevolle Hände vermittelt. Offenheit gegenüber allem und jedem ist hier Programm. „Ich finde es einfach ganz wichtig, dass man verdeutlicht – bei Mensch und bei Tier –, dass alle ganz besonders sind, egal wie viele Stärken und Schwächen sie haben. Und ich finde die nicht perfekten Tiere sind gerade so besonders“, so Schmidt. Dass Tiere mit Handicap, genau wie alle anderen Tiere, eine Chance auf ein schönes Leben verdient haben, zeigt auch der Deutsche Tierschutzbund mit seiner Kampagne „Tierheime helfen. Helft Tierheimen!“. „Handicap-Tiere warten im Tierheim nicht selten ein Leben lang auf ein neues liebevolles Zuhause. Denn zu oft wird weggesehen, wenn ein Tier anders ist als die anderen“, sagt Caterina Mülhausen, Leitung Campaigning beim Deutschen Tierschutzbund.

„Wir wollen jeden dazu ermutigen, Tieren mit
besonderen Bedürfnissen eine Chance zu geben.“

– Caterina Mülhausen

„Wir wollen im Rahmen der Kampagne jeden dazu ermutigen, Tieren mit besonderen Bedürfnissen bei der Adoption eine Chance zu geben und zeigen, dass sie viel Freude in unsere Leben bringen können.“ Neben querschnittsgelähmten Hunden, die mit einem Rollstuhl wieder neu laufen lernen, oder Katzen und Hunden mit drei Beinen, kümmern sich die Tierschützer im Tierheim Alsfeld auch immer wieder um blinde Tiere. Genauer gesagt fing ihr besonderes Engagement genau mit diesen Tieren an. „2015 wurden wir gebeten, eine Gruppe blinder Hunde aufzunehmen. Wir haben zwar davor auch schon mal Tiere mit Handicap betreut, aber diese Gruppe war etwas ganz Besonderes. Die Hunde haben unser Herz derart erobert, dass wir uns danach nie mehr die Frage gestellt haben, ob wir auch Tiere mit Handicap aufnehmen“, erzählt Schmidt.

Blinde Tiere wie Katze Lieselotte (Artikelheader) und Hund Lumi können mit der richtigen Fürsorge und entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen sehr gut durchs Leben kommen. Bei Katzen vermuten Experten oft einen nicht oder nicht ausreichend behandelten Katzenschnupfen als Ursache der Erblindung.

„Dafür macht man es“

Interview mit Ann-Catrin Schmidt, 1. Vorsitzende des Tierheims Alsfeld

Was macht das Leben mit einem Handicap-Tier aus?

Ich selbst lebe mit zwei blinden Katzen zusammen. Und staune allein jeden Tag über die Fähigkeiten meines blinden Katers. Wie leichtfüßig er durch ein Haus mit mehreren Stockwerken läuft und wie er unter Aufsicht mit voller Freude durch das Herbstlaub hüpft. Das sind Momente, die einen voller Faszination auf die Tiere blicken lassen, und die einem zeigen, dass wir von ihnen unheimlich viel lernen können, weil sie ihre Situation, ihr Schicksal sozusagen beim Schopf ergreifen und jeden Tag mit ganz viel positivem Einklang annehmen. Natürlich kann man das nicht auf alle Tiere übertragen, aber es ist einfach immer wieder faszinierend. Mir geht das Herz auf, wenn ich Videos geschickt bekomme, und zwei dreibeinige Hunde wie wild ausgelassen auf einer Wiese rennen. Sie zeigen, was wir uns bei ihnen abgucken können. Nämlich, dass sie mit Stolz durchs Leben gehen – auch wenn sie ein Handicap mit sich tragen.

Was bedeutet die Pflege der Handicap-Tiere für den Tierheimalltag?

An erster Stelle gebührt unseren Mitarbeitern ein ganz großes Lob. Ohne sie wäre all das nicht möglich. Sie haben natürlich den enormen Pflegeaufwand im Tierheim täglich vor Ort. Wenn sie den Tieren nicht so positiv gegenüber eingestellt wären, wäre die Möglichkeit der Adoption gar nicht gegeben. Natürlich war das auch für uns ein Prozess im Laufe der Jahre. Auch wir hatten irgendwann das erste Mal einen Hund mit Rollstuhl im Tierheim und mussten das Handling lernen. Aber die Tiere und die Mitarbeiter wachsen gemeinsam – das ist das, was ich über die vielen Jahre sagen kann. Wir sind ein Tierheim mit ganz viel Herzblut. Wir stehen Menschen mit Besonderheiten genauso offen gegenüber wie Tieren. Und ich würde mich freuen, wenn mehr Tierheime den Mut aufbringen würden, Handicap-Tieren die Möglichkeit einer Aufnahme zu geben.

Was gibt Ihnen im Alltag Kraft?

Die Tiere. Allein die Happy-End-Geschichten mitzuerleben, wenn ein besonderes Tier ein liebevolles zu Hause findet – das lässt das Herz lachen, das gibt einem die Energie zum Weitermachen. Und die Energie für jedes weitere Tier einzustehen. Ich muss natürlich auch ganz ehrlich sagen, es gab auch schon Pflegetiere, wo ich gemerkt habe, die bringen mich an die Grenzen. Die haben mich auch viele Tränen gekostet. Gerade wenn es Tiere sind, die einen besonderen Pflegeaufwand haben. Aber wenn auch diese Tiere sich durch eine intensive Pflege so gut entwickeln und dann ein Zuhause finden, von dem ich Bilder bekomme, denke ich: Dafür hat es sich gelohnt. Dafür macht man es.

Jedes Tier ist individuell

Warum die Tiere blind oder gelähmt sind oder ihnen ein Bein fehlt, ist in der Regel nicht mehr ganz nachvollziehbar. „Zum Teil stehen dramatische Geschichten dahinter, aber das muss nicht immer der Fall sein“, so Schmidt. Dabei erzählt die Tierschützerin von einem Hund, dem so lange auf den Kopf geschlagen wurde, dass unter anderem seine Augen derart in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sie entnommen werden mussten. „Aber nicht jedes blinde Tier muss etwas Schlimmes erlebt haben. Die Blindheit kann auch einfach altersbedingten Veränderungen oder einer Erkrankung geschuldet sein“, so Schmidt. Bei blinden Katzen läge oft die Vermutung nahe, dass sie aufgrund eines gar nicht oder nicht ausreichend behandelten Katzenschnupfens erblindet seien. Fehlt Tieren ein Bein, gehen die Tierschützer in der Regel davon aus, dass sie von einem Auto angefahren wurden und die Beine nicht mehr zu retten waren. Wie auch immer die Tiere zu ihrem Handicap gekommen sind, eines ist beim Umgang mit ihnen ganz klar: Ihr Wohl muss immer an erster Stelle stehen und jedes einzelne von ihnen muss ganz individuell betrachtet werden. Und das braucht Zeit und Fachwissen.

„Tiere mit Handicap brauchen ein liebevolles Zuhause mit viel Herz, viel Geduld und viel Verständnis.“

– Ann-Catrin Schmidt

„Bei manchen Tieren sind die Spuren der Vergangenheit nicht zu übersehen. Dann muss man gucken, wie sie sich entwickeln. Es ist nicht immer direkt zu erkennen, dass sie später mit so einer Lebensfreude über Stock und Stein springen“, erzählt Schmidt. Die Frage, wann ein Leben lebenswert ist, ist wohl eine der schwierigsten, die es gibt, und sie zu beantworten ist alles andere als einfach. „Da ist auch immer der tierärztliche Blick sehr wichtig. Man kann das nicht pauschal beantworten.“ Es muss bei jedem Tier individuell abgewogen werden, inwiefern das Tier durch sein Handicap beeinträchtigt ist, ob es Schmerzen hat, und wie es zurechtkommt. „Und dann muss man natürlich auch in manch einem Fall sagen, dass man es zu seinem Wohl erlöst.“ Das sei jedoch zum Glück sehr selten. „Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass dreibeinige oder blinde Tiere mit der richtigen Fürsorge und – je nach Handicap – entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen sehr gut durchs Leben kommen. Da stellt sich die Frage gar nicht.“ Auch wissenschaftliche Studien bestätigen, dass viele Hunde und Katzen relativ gut mit amputierten Gliedmaßen zurechtkommen. „Tiere mit Handicap brauchen viel Herz, viel Geduld und viel Verständnis – von der Aufnahme im Tierheim bis zu dem Leben in einem liebevollen Zuhause.“ Dabei erzählt die Tierschützerin, dass manche Tiere lange brauchen, um sich an die Dreibeinigkeit zu gewöhnen, während andere hingegen wieder schnell in der Bewegung seien. Wenn ein Tier von Beginn an blind sei, habe es natürlich ein anderes Verhalten als ein Tier, das im Laufe der Zeit erblindet. Und abgesehen davon sei ein Leben mit einem querschnittsgelähmten natürlich ein anderes als eins mit einem dreibeinigen.

Liebevolle Seelen

Bei allen ist das richtige Handling das A und O. Dabei sollte niemand unterschätzen, dass es je nach Handicap eine Herausforderung sein kann, sich das nötige Fachwissen anzueignen. Dabei sei es laut Schmidt nicht nur ganz wichtig, dass vor der Adoption ein langer Kennenlernprozess stattfindet, sondern auch, dass die Familien entsprechend angeleitet werden. „Hier können natürlich unsere Mitarbeiter das über die Jahre gelernte Wissen weitergeben“, so Schmidt. Wenn alles medizinisch abgeklärt ist, ein Tier mit seinem Handicap gut zurechtkommt und die neuen Besitzer sich dessen bewusst sind und alle nötigen Voraussetzungen erfüllen, steht einem gemeinsamen Leben nichts mehr im Wege. Denn die Sorge vieler Menschen, dass ein Tier, das etwas Schlimmes erlebt hat, im Charakter nicht mehr sozial kompatibel mit dem Familienleben ist, sei oftmals unbegründet, so Schmidt. „Wir machen so unheimlich oft die Erfahrung, dass gerade die Tiere mit Handicap ein ganz tolles Wesen und eine unheimlich liebevolle Seele haben – und sich auch wunderbar für Familien eignen.“ Manchmal müsse man eben warten, bis man die perfekte findet, aber dann sei das Happy End umso schöner. „Ich möchte wirklich Mut machen, den Handicap-Tieren positiv und mit voller Liebe zur Seite zu stehen. Sie haben es einfach so sehr verdient. Und nur, weil ihnen vielleicht etwas fehlt oder weil vielleicht etwas nicht mehr so ganz funktioniert, sind sie vom Wesen, von der Seele und vom Herzen her doch nicht weniger wundervoll als alle anderen. Vielleicht sind sie es auch gerade deswegen.“

Weiterführende Informationen

  • Die Kampagne „Tierheime helfen. Helft Tierheimen!“ ermutigt unter anderem dazu, auch Handicap-Tieren eine Chance zu geben.
    tierheime-helfen.de/handicap-tiere
  • Unterstützen Sie die Arbeit des Deutschen Tierschutzbundes: Werden Sie Fördermitglied und erhalten Sie das Magazin DU UND DAS TIER frei Haus. Wir informieren Sie über alle tierschutzrelevanten Entwicklungen mit Berichten, Reportagen und spannenden Hintergrundberichten und Sie helfen uns dabei, den Tieren zu helfen.
    duunddastier.de/mitgliedschaft

Bildrechte: Artikelheader: Tierheim Alsfeld (Katze); Fotos: Tierheim Alsfeld (Hunde und Katzen, Vorsitzende)