Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER
Seit Jahrtausenden müssen Rinder, Schweine, Schafe, Hühner und Fische die Ernährungsbedürfnisse der Menschen bedienen. Auch wenn sich immer mehr Verbraucher für eine vegetarische oder vegane Ernährung entscheiden, möchte die Mehrheit nicht auf Fleisch verzichten. In den meisten deutschen Haushalten sind Schnitzel, Bratwurst und das Salamibrot nicht wegzudenken. Jeder Bundesbürger verzehrt durchschnittlich etwa 60 Kilogramm Fleisch im Jahr. Dafür müssen allein hierzulande jährlich 59,3 Millionen Schweine, 57,7 Millionen Hühner, 3,6 Millionen Rinder und 37,5 Millionen Puten sterben – Wildtiere, Fische und andere Tiere, die auf dem Teller landen, nicht eingerechnet. In der industriellen Landwirtschaft fristet die große Mehrheit dieser Tiere ein kurzes, grausames Dasein.
Der Wettbewerb in der Fleischbranche ist aggressiv: Um der hohen Nachfrage nachzukommen, müssen in kurzer Zeit große Mengen an Fleisch produziert werden – und das möglichst billig. Gespart wird dabei vor allem am Tierschutz. Die Massentierhaltung und -schlachtung gehört zu den größten Problemen unserer Zeit. Und die Auswirkungen sind verheerend – sowohl für die Tiere als auch für uns Menschen und die gesamte Umwelt. Millionen Hektar Land werden landwirtschaftlich für die Fleisch- und Futtermittelproduktion genutzt, alleine für den Anbau von Futtersoja müssen immer neue Regenwälder weichen. Anstelle von Mischkulturen mit einer Vielfalt an Nutzpflanzen und Früchten entstehen zunehmend mehr Monokulturen, die entscheidend zum Artensterben beitragen. Zudem ist die industrialisierte Tierhaltung einer der Hauptverursacher für den steigenden Ausstoß von Treibhausgasen und den Klimawandel.
Doch jetzt gibt es einen Ausweg: Fleisch kann ohne all diese katastrophalen Folgen hergestellt werden. Verschiedene Start-ups aus den Niederlanden, Israel und den USA arbeiten mit Hochdruck daran, Fleisch im Labor zu züchten, für das zukünftig kein einziges Tier mehr leiden oder sterben muss. Viele Wissenschaftler, aber auch Investoren wie zum Beispiel Bill Gates, sehen in kultiviertem Fleisch, sogenanntem Clean Meat oder In-vitro-Fleisch, das Fleisch der Zukunft. „Wir denken, dass Clean Meat sehr erfolgreich sein wird, da es sich vom Geschmack und von der Konsistenz her nicht von normalem Fleisch unterscheidet, dafür aber gesünder, nachhaltiger und irgendwann sogar günstiger sein wird – noch dazu wird es ganz ohne Tierleid auskommen“, heißt es auf der Website von Mosa Meat, einem niederländischen Start-up-Unternehmen, das den eigenen Angaben nach das „erste schlachtfreie Fleisch der Welt“ hergestellt hat. Hinter diesem 2016 gegründeten Unternehmen steht einer der Pioniere dieses Forschungsgebietes: Professor Dr. Mark Post (siehe Interview).
2007 trat der niederländische Wissenschaftler an der Universität Maastricht einem Forschungsprojekt bei, das sich mit Clean Meat befasste. 2013 erlangte er schließlich weltweite Berühmtheit: Bei einer Pressekonferenz in London stellte Professor Post den ersten Burger aus kultiviertem Rindfleisch vor – gezüchtet aus Rinderstammzellen in einer Petrischale. Die Kosten für die Herstellung: 250.000 Euro. Unter den kritischen Blicken der Öffentlichkeit durfte eine Ernährungswissenschaftlerin die kostspielige Frikadelle kosten. Zwar fiel ihr Geschmacksurteil damals eher bescheiden aus – das Fleisch schmeckte ihr zufolge nicht saftig genug. Doch seither hat die Entwicklung von Clean Meat große Fortschritte gemacht, sowohl in Bezug auf den Geschmack als auch auf die Herstellung und die damit verbundenen Kosten. Laut Mosa Meat sei es ungefähr ab dem Jahr 2021 möglich, Burger zu einem Preis von etwa zehn Dollar auf den Markt zu bringen. Zwei bis drei Jahre nach Markteinführung solle der Preis dann auf Höhe konventioneller Fleischburger liegen. Damit das kultivierte Fleisch saftiger schmeckt, züchtet die Arbeitsgruppe von Professor Post inzwischen auch Fett, das ebenfalls aus Stammzellen gewonnen und dem kultivierten Fleisch beigemischt werden kann.
Der Professor von der Universität Maastricht ist einer der Erfinder von Clean Meat. Lesen.
Mittlerweile beteiligen sich auch einige weitere Startups in den USA, Israel und Japan am Wettlauf um das beste künstlich hergestellte Fleisch beziehungsweise, wie im Fall eines japanischen Unternehmens, Clean Fish. „Die verschiedenen Arbeitsgruppen und Startups haben jeweils ihre eigene Technik und gewähren Außenstehenden kaum Einblick“, sagt Dr. Esther Müller, Leiterin der Abteilung Interdisziplinäre Themen beim Deutschen Tierschutzbund. „Im Grundsatz dürften die Herstellungsabläufe aber ähnlich sein.“
Der große Haken: Für diesen Prozess sind sehr nährstoffreiche Medien erforderlich, die Dr. Müller zufolge derzeit noch fetales Kälberserum, kurz FKS, enthalten. Das Serum dient als wichtiger Zusatz für Nährlösungen, damit Zellen im Labor wachsen und sich vermehren können. „Die Gewinnung des fetalen Kälberserums ist grausam: Ungeborenen Kälbern wird aus den noch schlagenden Herzen möglichst viel Blut entnommen. Dies geschieht ohne Betäubung, obwohl es deutliche Hinweise gibt, dass die Kälberföten bereits leidensfähig sind“, schildert Dr. Claudia Salzborn, Leiterin der Abteilung Tiere in der Landwirtschaft beim Deutschen Tierschutzbund. Sowohl das Muttertier als auch das Kalb sterben. „Der Einsatz des Serums ist derzeit aus Tierschutzsicht noch das größte Problem bei der Herstellung von Clean Meat.“
Komplett ohne Tierleid kommt Clean Meat also nach aktuellem Stand noch nicht aus. Einige Start-ups, darunter Just und Memphis Meats aus den USA, geben allerdings bereits an, tragfähige Alternativen entwickelt zu haben, die das Kälberserum ersetzen können – genauere Details wollen die Unternehmen bislang aber nicht preisgeben. Auch Mosa Meat arbeitet nach eigenen Angaben bereits an einem Ersatz.
Ohnehin sind sich die verschiedenen Akteure einig, dass Clean Meat zukünftig komplett ohne Tierleid auskommen muss. Schließlich treibt die meisten Arbeitsgruppen vor allem auch die Vorstellung an, ein Produkt zu entwickeln, das die massenhafte Haltung und Schlachtung von Tieren überflüssig macht. „Allgemein ist zu hoffen, dass die Tiere, die zukünftig noch für die Stammzellproben benötigt werden, möglichst optimale Lebensbedingungen genießen und grundsätzlich bis hin zu ihrem Tod ein langes, artgerechtes Leben führen können“, so Dr. Müller. Neben dem Ersatz des Kälberserums gibt es jedoch noch eine weitere technische Herausforderung: Wie kann das Laborfleisch zukünftig im großen Maßstab produziert werden? Auch diesen Aspekt sehen die Arbeitsgruppen optimistisch – es sei nur eine Frage der Zeit. Die niederländische Bioethikerin Cor van der Weele entwirft sogar das Bild von urbanen Minifarmen, in denen die Tiere als glückliche Heimtiere leben, während ihre Zellen in lokalen Clean-Meat-Anlagen kultiviert werden.
Grundsätzlich hat Clean Meat das Potenzial, die Intensivtierhaltung überflüssig zu machen. Anstelle von auf Höchstleistung gezüchteten Rindern, Schweinen und Geflügel könnten Landwirte Tiere halten, die ausgeglichener, gesünder und robuster sind – und vor allem nicht nach kurzer Zeit sterben müssen. Für kleinere und mittlere Landwirtschaftsbetriebe muss das kein Nachteil sein. Im Gegenteil: So könnten sie das Laborfleisch selbst produzieren oder ihr eigenes Clean-Meat-Produkt anbieten. Es könnten neue, qualifizierte Jobs in den Betrieben entstehen, aber auch neue Beteiligungsformen und Kooperationen mit kleinen oder größeren spezialisierten Biotechnologie-Betrieben. „Ein weiterer großer Vorteil ist, dass gezielt nur das produziert wird, was die Verbraucher eigentlich wollen, also das Fleisch. Es gäbe daher keine Probleme mehr mit Schlachtabfällen, Schlachtkörperverwertung und dergleichen“, sagt Dr. Salzborn.
Professor Post zufolge können Menschen Clean Meat ohne Bedenken verzehren: „Das Gewebe ist dasselbe wie bei Fleisch, das direkt vom Tier stammt – genau genommen ist es sogar gesünder als konventionelles Fleisch, weil es in einer völlig reinen, sterilen Umgebung und ohne Einsatz von Antibiotika hergestellt wird.“ Gerade weil seine Arbeitsgruppe so genau auf einen sauberen Herstellungsprozess achte, sei es nicht nötig, Antibiotika einzusetzen. Dagegen hält Dr. Müller, dass andere Start-ups durchaus zumindest derzeit noch Antibiotika verwenden, um ihre Zellkulturen vor Keimen zu schützen. Einen weiteren Vorteil sieht Professor Post darin, dass die Wissenschaftler bereits Clean Meat herstellen können, das weniger oder gesünderes Fett enthält. „Das würde sich positiv auf den Cholesterinspiegel auswirken und das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung reduzieren“, schildert der Experte. Außerdem bestehe bei Clean Meat ein geringeres Risiko, dass sich Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen übertragen – diese kommen häufig in der konventionellen Fleischproduktion vor, so Dr. Müller.
Dass der Verzehr von Clean Meat tatsächlich unbedenklich ist, muss die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit zunächst noch bestätigen – das gilt für alle neuartigen Lebensmittel, Novel Food genannt. Erst dann dürfen die Produkte auf dem Markt eingeführt werden. Allerdings sind bei diesen Novel-Food-Prüfungen auch Tierversuche üblich, kritisiert Dr. Müller. „Solche Studien kosten Hunderten von Ratten und weiteren Kontrolltieren das Leben.“ Es ist denkbar, dass zumindest kultiviertes Hackfleisch in absehbarer Zeit auf den Markt kommt. Dessen Herstellung ist technisch gesehen mittlerweile weit fortgeschritten. Auf ein saftiges Steak muss der Verbraucher noch länger warten, sagt Professor Post. „Noch können wir nicht die komplexe Gewebestruktur eines Steaks herstellen, aber wir arbeiten daran und gehen davon aus, dass wir das in Zukunft hinkriegen.“
Grundsätzlich bietet Clean Meat die Chance, natürliche Ressourcen einzusparen und Umweltbelastungen zu verringern – es besteht die Hoffnung, dass viel weniger Land für die Fleisch- und Futtermittelproduktion genutzt wird, dass weniger Treibhausgase ausgestoßen und die Böden sowie das Grundwasser deutlich weniger mit Nitrat vergiftet werden und dass auch der Wasserverbrauch geringer wäre. Aber bei aller Euphorie der Start-ups und Unterstützer sind Studien zur Umweltbilanz bislang noch hypothetisch: „Niemand weiß genau, wie die Produktionsverfahren und Ökobilanzen am Ende tatsächlich aussehen werden“, sagt Dr. Müller. Der Energieverbrauch werde aber sicher sehr hoch sein, sodass der Einsatz erneuerbarer Energien in jedem Fall von Vorteil wäre. „An den Chancen für den Tierschutz ändert dies aber nichts.“
Doch Clean Meat muss auch noch eine weitere Hürde nehmen: die Akzeptanz des Konsumenten. Nicht jeder findet die Vorstellung, in einem Labor gezüchtetes Fleisch zu essen, appetitlich. So wurden nach der Pressekonferenz 2013 auch kritische Stimmen laut – einige Menschen ekelten sich. Professor Post hofft, dass die Menschen solche Berührungsängste verlieren. Schließlich handele es sich bei Clean Meat um richtiges Fleisch, wie wir es kennen, „nur nicht in der Kuh produziert“. „Um gegen Vorurteile anzusteuern, ist es wichtig, über das Thema aufzuklären und auch über die Vorteile, vor allem im Bereich Tierschutz, zu informieren“, sagt Dr. Müller.
Bevor Clean Meat also massentauglich wird, sind noch einige Faktoren zu klären. Aber so lange Menschen nicht auf Fleisch verzichten möchten, bietet das Laborfleisch eine vielversprechende Chance und hoffentlich bald eine umweltfreundlichere und tierfreundlichere Alternative. So sieht das auch Verena Jungbluth, Leitung Veganismus beim Deutschen Tierschutzbund: „Clean Meat ist aus Tierschutzsicht besser zu vertreten als kommerzieller Fleischkonsum, für den Millionen von Tieren tagtäglich leiden und sterben müssen. Vor allem ist es aber auch ein Mittel und Zwischenschritt, um auf lange Sicht den Übergang zu einer stärker pflanzenbasierten oder veganen Ernährung einzuleiten, die noch nachhaltiger ist als kultiviertes Fleisch.“
Laut Prognosen der Vereinten Nationen sollen im Jahr 2050 rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Wollte man die heutige Form der Landwirtschaft mit Tiertötung, Tierqual, Risiken für die menschliche Gesundheit und einem hohen Ressourcenverbrauch beibehalten, wäre die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung kaum zu sichern. Clean Meat könnte eine sinnvolle Alternative sein. Vor allem aber sollten Menschen wieder bewusster und insgesamt weniger Fleisch essen. Mehr Getreide, Gemüse und Obst auf dem Teller schmeckt nicht nur gut und macht satt, sondern schont auch die Tier- und Umwelt.
Weniger Tierleid, denn um Clean Meat herzustellen, wären weitaus weniger Rinder nötig.
Böden und das Grundwasser würden deutlich weniger mit Nitrat vergiftet.
In der Landwirtschaft können qualifizierte neue Jobs entstehen.
Es würden weitaus weniger Wälder abgeholzt.
Clean Meat enthielte gesünderes Fett.
Ab 2021 könnten Clean-Meat-Burger deutlich preiswerter werden.