„Den menschlichen Organismus besser verstehen“

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„Den menschlichen Organismus besser verstehen“

Wiebke Albrecht, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund, hat für ein von ihr entwickeltes Zellkulturverfahren den 38. Tierschutzforschungspreis des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) erhalten. DU UND DAS TIER hat mir ihr gesprochen.

  • Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER

Wiebke Albrecht, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund und Preisträgerin des 38. Tierschutzforschungspreises des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).

DU UND DAS TIER: Frau Albrecht, was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um tierversuchsfreie Methoden hierzulande zu etablieren?

Wenn es um die Entwicklung von Alternativmethoden zu Tierversuchen geht, arbeiten in der Regel Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammen. In unserem Projekt sind das zum Beispiel die Bereiche Toxikologie, Statistik, Medizin, Pharmazie und Informatik. Dieser interdisziplinäre Austausch muss weiter intensiviert werden. Nur so können wir die Komplexität des menschlichen Organismus besser verstehen und Tierversuche reduzieren.

DU UND DAS TIER: Warum wollten Sie eine tierversuchsfreie Methode entwickeln, mit der Sie die Verträglichkeit pharmazeutischer Substanzen testen können?

Lebertoxizität ist ein häufiger Grund für die Rücknahme von Medikamenten und für das akute Leberversagen. Trotz gesetzlich vorgeschriebener Tierversuchsstudien gelingt es nicht in allen Fällen, Leberschäden bedingt durch Medikamente oder Alltagschemikalien sicher vorherzusagen. Wir forschen an einer Methode, mit der wir beurteilen können, wie gut ein Testsystem aus der Zellkultur überhaupt Leberschäden vorhersagen kann. Wir können also noch nicht von einem fertig entwickelten Produkt sprechen – dafür haben wir eine vielversprechende Methode vorgeschlagen, die mit dem Tierschutzforschungspreis ausgezeichnet wurde. Die gewonnenen Erkenntnisse nutzen wir, um unser Testsystem gezielt zu optimieren. Langfristig soll unser Verfahren es ermöglichen, leberschädigende Wirkungen von Stoffen vorherzusagen und sichere Aufnahmemengen zu definieren – ohne dass dafür Tierversuche nötig sind.

DU UND DAS TIER: Welche Tierversuche könnte Ihr Zellkulturverfahren in naher Zukunft ersetzen?

Aktuell kann das Zellkulturverfahren inklusive der mathematischen Modellierung zur Identifikation sehr giftiger Substanzen eingesetzt werden, die auf keinen Fall im Menschen eingesetzt werden sollten. Daher könnte bei entsprechendem lebertoxischem Ergebnis beim Vortest im Zellkulturverfahren eine Testung im Tierversuch zukünftig entfallen. Gelingt es uns, ein zuverlässiges Verfahren zu etablieren, dann könnte und müsste das Prinzip auch auf weitere Zellkulturverfahren zur Nieren-, Herzund Nerventoxizität angewandt werden. So ließen sich viele weitere Versuche ersetzen. Das ist unser Ansporn, aber wir müssen auch klar sagen: Wir sind noch mitten im Forschungsprozess.

DU UND DAS TIER: Wie oft und warum kommt es vor, dass bereits zugelassene Medikamente, die innerhalb von Tierversuchen getestet wurden, wieder zurückgerufen werden?

Die Zahl verkehrsfähiger Arzneimittel beträgt laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) insgesamt etwa 103.000. Diese werden die gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche sowie klinische Studien am Menschen durchlaufen haben. Die Zahl der vom Markt genommenen Medikamente zwischen 1953 und 2013 betrug 462. Das Risiko von gesundheitlichen Schäden für den Menschen wird also durch Tierversuche nicht in allen Fällen korrekt vorhergesagt. Aber auch die klinischen Studien mit Menschen zeigen nicht immer zuverlässig mögliche Risiken an. Das liegt daran, dass sich auch Patienten in vielen Risikofaktoren unterscheiden – zum Beispiel in ihrer Genetik, in Vorerkrankungen und in ihrer Lebensweise – und nicht jedes toxische Medikament bei jedem Patienten Organschäden hervorruft. Die Schwere der Schäden bei Patienten reicht vom Extrem der Contergan-Katastrophe, über Organschäden die schwer oder sogar tödlich verlaufen sind, bis hin zu Einzelfällen von leichten Organschäden, die nach Absetzen der Medikamente wieder verheilt sind. Am häufigsten sind Leberschäden. Schäden der Niere und des Herzens sind ebenfalls häufig.

DU UND DAS TIER: Welche Erkenntnisse bringt das von Ihnen entwickelte Zellkulturverfahren im Vergleich zu Forschungen an Tieren?

Wir forschen an einem Zellkulturverfahren, das auf menschlichen Leberzellen basiert. Die Zellen sind limitiert, wir erhalten sie aus operativ entnommenem Lebergewebe. Da es trotz vorgeschriebener Tierversuche nicht in allen Fällen möglich ist, gesundheitliche Schäden von etwa Medikamenten für den Menschen korrekt vorherzusagen, stellen Verfahren auf Basis menschlicher Zellen somit eine vielversprechende Alternative dar. Am sichersten ist es aber aktuell noch, wenn man Tierversuche und Alternativmethoden mit menschlichen Zellen kombiniert. Denn jedes System hat seine Lücken.

DU UND DAS TIER: Was ist Ihr nächstes Ziel?

Wir haben einen ersten Nachweis erbracht, dass unser Ansatz funktioniert. Damit hört die Forschung aber nicht auf, im Gegenteil: Wir müssen viele weitere Stoffe im Labor mit unserem Verfahren testen, um es gezielt zu verbessern. Denn das Verfahren soll am Ende nicht nur genutzt werden, um die besonders toxischen Substanzen auszusortieren. Vielmehr soll es langfristig ermöglichen, in der Kulturschale vorherzusagen, wie viel man von einem Stoff täglich zu sich nehmen kann – ohne gesundheitliche Schäden zu befürchten. Für einen Stoff sind wir mit unserem Testsystem auf ähnliche Aufnahmemengen gekommen, die bisher nur auf Basis von aufwendigen Fütterungsstudien an Tieren gewonnen wurden. Das ist ein Erfolg, reicht aber zahlenmäßig nicht für die Anwendung aus.

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