Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER
Für Menschen, die es nicht selbst erfahren haben, ist es kaum vorstellbar. Wir können nur erahnen, wie es ist, im Krieg zu leben. Wie es sich anfühlt, nicht zu wissen, ob es noch ein Morgen, ein Zuhause und eine Zukunft gibt. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen und ein ganzes Land in Angst versetzt. Zwei Jahre ist das nun schon her und seitdem herrscht Krieg. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) hat dieser bis Ende 2023 mindestens 10.191 zivile Opfer gefordert, darunter mindestens 573 Kinder – und es ist kein Ende in Sicht. Zu denjenigen, die unter diesen widrigen Umständen nicht nur versuchen, weiterzuleben, sondern auch noch etwas zu bewirken, gehören die Mitarbeiter*innen des Tierschutzzentrums Odessa des Deutschen Tierschutzbundes. „Zu wissen, dass man sein Schicksal mit allen Menschen und Tieren um sich herum teilt, ob es das Leben oder der Tod ist, verbindet. Wir gehen gemeinsam, wenn es sein muss, bis zum Ende. Als Land kennen wir das schon von damals, als die Sowjetunion zusammenbrach. Da wussten wir auch nicht, was kommt. Und genauso klar war für uns von Beginn des Krieges an: Wir können uns nicht vorstellen, alles zurückzulassen. Es muss doch weitergehen“, sagt Irina Naumova, Leiterin des Tierschutzzentrums.
Seit 24 Jahren engagiert sich der Deutsche Tierschutzbund in der Ukraine für den Schutz von Straßentieren – seit zwei Jahren im Schatten des Krieges. Der Angriff Russlands war auch für den Verband ein Schock. „Die erste Phase war durch Chaos bestimmt. Schnell aufeinanderfolgende Ereignisse machten es für uns kaum möglich, die Risiken für länger als einen Moment abzuschätzen“, erinnert sich Luca Secker, Referentin für Heimtiere beim Deutschen Tierschutzbund. Die Hafenstadt Odessa galt als eines der möglichen Ziele. Die Nachrichten überschlugen sich und nannten die Bombardierung der Stadt als geplanten Akt. Zudem grenzt das Gelände des Zentrums an den Flughafen. „Bei Ausbruch des Krieges befanden sich 53 Hunde und 15 Katzen im Zentrum. Der Flughafen sollte weiträumig abgesperrt werden, sodass wir in dem Fall die Versorgung nicht mehr hätten gewährleisten können. Daher haben wir am 5. März 2022 entschieden, alle Tiere zu evakuieren.“ In einer groß angelegten Rettungsaktion in enger Abstimmung mit dem Veterinäramt des EU-Nachbarlands Rumänien sowie in Kooperation mit der Tierhilfe Hoffnung, einem in Rumänien tätigen Mitgliedsverein des Deutschen Tierschutzbundes, gelang es, alle Tiere in Sicherheit zu bringen. Auch die Evakuierung von Mitarbeiter*innen und ihren Familien, die sich zur Flucht entschieden, hat der Verband damals aktiv begleitet. Nachrichten von grausamen Angriffen auf verschiedene Einrichtungen mit Tieren und getöteten Menschen, die Tiere auf der Straße füttern wollten, sowie Hunden, die in einem von Russland blockierten Tierheim verhungerten, weil sie nicht mehr versorgt werden konnten, bestätigten kurze Zeit später, dass das schnelle Handeln genau das Richtige war.
Der Krieg hat längst seine Spuren hinterlassen. So ist unter anderem die Infrastruktur seit Tag eins geschwächt – und das bei gestiegenem Bedarf. Denn im ganzen Land beobachten Tierschützer*innen seit Kriegsbeginn mehr herrenlose, frei lebende Tiere. Obwohl viele Ukrainer*innen ihre Haustiere auf der Flucht mitgenommen haben, kam und kommt es immer wieder dazu, dass Tiere ausgesetzt werden oder ihr Zuhause und ihre Halter*innen durch Bombardierungen verlieren (wie der Deutsche Tierschutzbund fliehende Ukrainer*innen mit ihren Tieren unterstützt hat, lesen Sie in DU UND DAS TIER 2/2022). „Die Überlebenschancen von diesen Tieren sind gering. Sie wissen nicht, wie man sich auf den Straßen zurechtfindet und erfolgreich an Essen kommt, sodass sie besonders auf Hilfe angewiesen sind“, so Secker.
Hinzu kommt, dass unkastrierte Tiere zur Vermehrung der Straßentiere beitragen. Und damit genau zu dem Problem, für dessen Lösung sich der Deutsche Tierschutzbund seit Beginn an engagiert. Vor seiner Arbeit lebten auf Odessas Straßen rund 70.000 bis 80.000 Hunde und tausende, ebenfalls unkastrierte Katzen. Das Leid dieser Tiere war groß, viele von ihnen waren ausgehungert und krank. Gleichzeitig versuchte die Stadt Odessa, dem „Straßenhundeproblem“ Herr zu werden, indem sie wöchentlich rund 200 Hunde einfangen und auf grausame Art und Weise töten ließ. Mit zahlreichen Besuchen und Gesprächen überzeugte der Deutsche Tierschutzbund die Behörden schlussendlich von der tierschutzgerechten Methode „Fangen, Kastrieren, Impfen, Freilassen“ und erreichte ein Ende der Tötungen. Im Jahr 2005 eröffnete der Verband das Tierschutzzentrum Odessa und hat dort bis Ende 2023 nicht nur 65.073 Tiere kastriert und insgesamt 80.257 hilfsbedürftige Tiere aufgenommen und versorgt, sondern auch die Zahl der Straßenhunde auf zuletzt 3.000 bis 4.000 reduziert. Der Krieg verschärft die Situation nun wieder – umso wichtiger, dass das Engagement weitergeht. Zahlreiche Mitarbeiter*innen sind geblieben und halten bis heute an ihrer Arbeit fest.
Doch wie macht man weiter, wenn um einen herum alles zusammenbricht? Die erste Zeit war vor allem von Hindernissen geprägt. Straßenblockaden, Lieferengpässe von Futter und Kraftstoff sowie Stromausfälle machten die normale Arbeit unmöglich. „Wir haben nur von Tag zu Tag, teils nur von Minute zu Minute geplant“, so Naumova. Der Deutsche Tierschutzbund organisierte ein Notstromaggregat und lieferte gemeinsam mit der Gemeinschaft Deutscher Tierrettungsdienste (GDT) Tierfutter und Medizinprodukte. Der Fokus lag zunächst auf der Sicherung der grundlegendsten Bedürfnisse. Eine ganz wichtige Säule in dieser Zeit: Die Ortskenntnisse der lokalen Mitarbeiter*innen und das große Netzwerk, das der Deutsche Tierschutzbund sich über die Jahre aufgebaut hat. Nur so war es möglich, die benötigte Hilfe zielgerichtet und entsprechend der lokalen Voraussetzungen zu planen. So arbeitet das Zentrum zum Beispiel bis heute mit lokalen Tierschützer*innen zusammen, die Futterstellen betreiben, und das Team konnte durch seine Ortskenntnisse trotz Straßenblockaden weiterarbeiten. Mit der Zeit gelang es, die Arbeit so gut es geht wiederaufzunehmen. Und das mit Erfolg: Es wurden im ersten Kriegsjahr über 1.200 Tiere versorgt und fast 1.000 Tiere kastriert.
Wie wichtig es war, die Arbeit aufrecht zu erhalten, zeigte eine weitere Katastrophe, die sich im Sommer 2023 ereignete. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms sorgte für eine immense Überflutung des Dnipro-Deltas, circa dreieinhalb Autostunden von Odessa entfernt. Zahlreiche Menschen und Tiere verloren ihr Zuhause, viele bezahlten die Flut mit ihrem Leben. „Unsere Tierärztinnen und Tierärzte sind sofort die Sammelstellen um das Flutgebiet herum angefahren und haben sich auf die medizinische Erstversorgung der Tiere konzentriert. Diese waren dem hohen Infektionsdruck ausgesetzt, der für Fluten typisch ist, und viele von ihnen stark verölt. Tiere, die eine intensivere medizinische Betreuung benötigten, haben wir in unser Zentrum geholt“, so Naumova. Darüber hinaus hat das Team Ehrenamtliche mit Material und Futter ausgestattet, die geholfen haben, weitere Tiere aus dem Flutgebiet zu evakuieren. 28 Hunde und fünf Katzen hat das Zentrum aus dem Flutgebiet aufgenommen. Elf Hunde konnten bereits vermittelt werden, die anderen Tiere werden wahrscheinlich noch längere Zeit in der Obhut der Tierschützer*innen bleiben.
– Irina Naumova
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Im Krieg sterben jeden Tag Menschen und Tiere, vor allem an der Front. Ein Hund, der überlebt hat, ist Matilde. Die kranke und abgemagerte Zentralasiatische Schäferhündin hatte an der Front Zuflucht bei ukrainischen Soldaten gesucht. „Die Soldaten dachten erst, sie sei taub, weil Matilde nicht auf die Explosionen und Detonationen reagierte”, erzählt Naumova. „Doch mit der Zeit haben sie verstanden, dass sie sich lediglich an den Lärm gewöhnt hatte.” Um das Tier in Sicherheit zu bringen, haben sie es einer Familie mitgegeben, die von der hart umkämpften Front nach Odessa geflohen ist. Diese hat Matilde wiederum ins Tierschutzzentrum gebracht. „Unsere Tierärztinnen und Tierärzte haben festgestellt, dass sie einen Tumor am Gesäuge hat, haben sie operiert und später kastriert. Ohne das Engagement der Soldaten und der Familie wäre die Hündin über kurz oder lang jämmerlich gestorben.“ Matilde zeigt sich den Tierschützer*innen gegenüber freundlich, ist mit anderen Hunden aber unverträglich. Aufgrund dessen geht Naumova davon aus, dass sie früher eine*n Besitzer*in hatte. „Auch, wenn die Vermittlungschancen im Krieg gering sind, versuchen wir für sie ein liebevolles, für die Rasse geeignetes Zuhause zu finden“, sagt Naumova.
Das Tierschutzzentrum ist bisher zum Glück von größeren Angriffen verschont geblieben, der Alltag in Odessa ist aber bis heute von Alarmen und Detonationen geprägt. „Gleichzeitig ist der Bedarf an Tierschutzangeboten groß, und unser Ziel ist es, den Betrieb fortgesetzt zu sichern“, sagt Secker. „Dadurch ermöglichen wir auch unseren Mitarbeiter*innen eine neue ‚Normalität‘, die ihnen nach eigener Aussage Orientierung und Hoffnung für die Zukunft gibt.“ Aus diesem Grund werden die nötigen Sanierungsarbeiten im Zentrum, die seit Pandemiebeginn ausstehen, nicht länger aufgeschoben. „Fort- und Weiterbildung sowie eine gute tiermedizinische Ausstattung sind nach wie vor wichtig. Unter anderem haben wir neue Schermaschinen, Lagerungsmatratzen, Materialien zur Erstellung von Prothesen, zwei Infusiomate, ein Endoskop und Fachliteratur zur autodidaktischen Fortbildung geliefert.“ Zudem hat das Team im Winter, obwohl es vermehrt Angriffe gab, an einer veterinärmedizinischen Konferenz in Kiew teilgenommen, um sich weiterzubilden und weiter zu vernetzen. Auch baulich gibt es Veränderungen: Es entstehen gerade vier neue Ausläufe mit gut isolierten Hundehütten. Diese sollen den Hunden aus dem Flutgebiet bei ihrem längeren Aufenthalt im Zentrum mehr Auslauf bieten.
Jedes Tier, das Hilfe benötigt, macht die Bedeutung der Arbeit deutlich. So war Anfang des Jahres zum Beispiel eine Hündin am Tor des Zentrums angebunden. „Sie war verängstigt, abgemagert und hatte Wunden am Körper“, berichtet Naumova. Bei der Untersuchung der Wunden haben die Tierschützer*innen Nahtmaterial gefunden, auf das die Hündin sehr stark allergisch reagiert hatte. Sie musste direkt operiert werden. Eine Röntgenaufnahme offenbarte, dass sie zusätzlich unter einer Bronchitis litt. Inzwischen ist die Hündin dank der guten Versorgung auf dem Weg der Besserung – und Linda, so heißt sie heute, gerettet. Nicht auszumalen, was mit ihr und all den anderen Tieren passiert wäre, hätten sich die Tierschützer*innen in Odessa ihrer nicht angenommen. „Es hat sich bei uns inzwischen eine Art Kriegsalltag eingestellt, ein fast schon skurriler Alltag. Nachts hören wir Raketen, tagsüber hören wir Kinder, die im Park spielen, und werden im Zentrum schwanzwedelnd von unseren Schützlingen empfangen. Aber diese Gleichzeitigkeit, dieser Alltag neben dem Krieg, gibt uns Hoffnung und hilft uns, weiterzumachen“, sagt Naumova.