Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER
Wenn Millionen Deutsche im Frühjahr und Sommer in den Urlaub fahren, vermitteln Schafherden im hohen Norden und im bergigen Süden gerade Stadtmenschen ein Gefühl von Entschleunigung. Die flauschigen Tiere gehören unweigerlich zum imposanten Panorama der Alpen. Und auch auf den Deichen, die Friesland vor der rauen Nordsee schützen, sind sie fester Bestandteil der Szenerie. Wenn sie friedlich grasen und die Lämmer mit ihren noch zarten Stimmchen meckern, ist der Alltagsstress vergessen. Doch die Postkartenromantik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hunderttausende Lämmer an Ostern eben nicht im Grünen weiden. Sie landen noch im Kindesalter in vielen Haushalten und Restaurants auf den Festtagstellern.
Statt wie üblich im Frühjahr sind die Osterlämmer schon im Winter geboren. Eine Weide haben sie in der Regel nicht kennengelernt, wenn die Schafhalter*innen sie mit reichlich Bei- und Kraftfutter vorwiegend im Stall mästen. So erreichen sie nur Monate nach der Geburt ihr Schlachtgewicht. „Wir gehen davon aus, dass zu Ostern vermehrt junge Lämmer geschlachtet werden, auch wenn sich dies statistisch nicht nachweisen lässt“, sagt Dr. Anna Szczepanek, Referentin für Interdisziplinäre Themen beim Deutschen Tierschutzbund. Das statistische Bundesamt erfasst das exakte Alter von Tieren bei der Schlachtung nicht, wohl aber den Bestand. Im November 2023 zählte es hierzulande 1,6 Millionen Schafe. Das sind 42.800 Tiere mehr als im Jahr zuvor. Mehr als 900.000 Schafe und Lämmer aus dem Inland schleusten die Schlachter*innen 2023 in Deutschland durch ihre Betriebe.
Aufgrund der hohen Nachfrage erzielen die Erzeuger*innen zu Ostern Höchstpreise. Aber auch an Weihnachten und dem islamischen Opferfest steigt der Absatz des Fleisches, das trotz der hohen Schlachtzahlen eher zu den Nischenprodukten zählt. Etwa 0,6 Kilogramm des durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Fleischverzehrs von rund 52 Kilogramm in Deutschland entfallen auf Schaf- und Ziegenfleisch. Dabei spielen Ziegen eine untergeordnete Rolle, während Lammfleisch den größten Absatz findet.
Nicht alle süßen Lämmchen müssen zum Schlachthof. „Tatsächlich leisten viele Schäfer*innen mit ihren Herden einen wichtigen Beitrag, bedeutende Teile unserer Kulturlandschaft zu erhalten“, merkt Dr. Szczepanek an. Die Landschaftspflege wird für Schafhalter*innen immer wichtiger. Mittlerweile macht sie circa 59 Prozent ihres Einkommens aus. Der Vorteil der Herdentiere, die gut hören, sehen und riechen können und von denen in Deutschland etwa 50 Rassen erfasst sind, ist Flexibilität. Da sie ursprünglich in Steppen und auf Hochebenen lebten, eignen sie sich zur Pflege fast aller Wiesenlandschaften. In alpinen Gegenden verdichten sie den Boden durch ihren Tritt und reduzieren so unter anderem Lawinenabgänge. Aber auch in Heide-, Moor- und Waldgebieten verhindern sie, dass die Flächen zuwuchern. Sie agieren als natürliche Unkrautvernichter, reduzieren so den Einsatz von Chemie und ermöglichen eine geschlossene Grasnarbe. Dadurch hinterlassen sie Deiche zum Beispiel deutlich widerstandsfähiger gegen Hochwasser.
„In Deutschland leben die meisten Schafe im Winter und während der Lammzeit im Stall, sind aber das restliche Jahr über auf der Weide“, so Dr. Szczepanek. Die durchgehende Stallhaltung, wie sie auch Osterlämmer ertragen müssen, sei nicht artgerecht und tierschutzwidrig. Gesunde Tiere können mit einem witterungsgeschützten Unterstand ganzjährig auf der Weide leben. Unabhängig davon, ob Schafe auf wechselnden nahe gelegenen Flächen grasen, mehrfach im Jahr über größere Strecken umziehen oder ohne Schäfer*innen auf umzäunten Wiesen leben, brauchen sie auch im Sommer einen Witterungsschutz. Alle Haltungsformen haben gemein, dass es immer wieder zu Tierschutzproblemen kommt. Im Gegensatz zur Massentierhaltung erscheinen die Weiden riesig, idyllisch und artgerecht. Doch die Schafhaltung in der Natur stellt auch besondere Anforderungen an die Schäfer*innen: Die Tiere benötigen viel Pflege, um dem Wetter zu trotzen, mit matschigen Böden zurechtzukommen und sich gegen Schädlinge zu behaupten. „Gerade in der zunehmenden Hobbyschafhaltung kann es durch fehlende Erfahrung und unzureichende Kenntnisse zu einer mangelhaften Pflege der Tiere kommen. Aber auch manche Profis betreuen die Tiere unzureichend. Zudem fehlt es den Schäfer*innen an politischer Unterstützung und finanziellen Möglichkeiten, die Tiere in Wolfsgebieten umfassend vor den Beutegreifern zu schützen“, bemängelt Dr. Szczepanek. Der Deutsche Tierschutzbund fordert daher einen Sachkundenachweis für alle Schafhalter*innen und die Förderung von Herdenschutzmaßnahmen durch Bund und Länder.
Zur Pflege der Schafe gehört auch die jährliche Schur. Manche Halter*innen vernachlässigen sie, da die Wolle weniger einbringt, als die Schur in Deutschland kostet. Die Expertin warnt: „Bleiben Schafe in voller Wolle, schränkt sie dies stark ein. Wenn sie dann nichts zum Scheuern haben, rollen sie sich sogar auf den Rücken, um den Juckreiz zu beenden.“ Bei tragenden Tieren könne dies bis zum Tode führen, wenn sie sich nicht selbst wieder aufrichten können. Die Schur sollten nur Expert*innen durchführen, damit die dünne Haut nicht verletzt wird. „Dies geschieht leider viel zu oft, wenn die Schur, die die Tiere ohnehin stresst, aus wirtschaftlichen Gründen im Akkord erfolgt“, so Dr. Szczepanek. Halter, die den richtigen Zeitpunkt, etwa von Mai bis Juni, verpassen, riskieren, dass die Tiere im Sommer einen Hitzestau erleiden oder im Winter erfrieren.
Sehr empfindlich sind Schafe zudem an den Klauen. „Durch Keime im feuchten Untergrund können sie sich leicht entzünden. Dies kommt auch vor, wenn die Tiere falsches Futter erhalten oder sie von weichem auf harten, stoppeligen Untergrund wechseln“, weiß Dr. Szczepanek. Bei durchschnittlich 90 Schafen pro deutschem Betrieb verlieren leider manche Schafhalter*innen den Überblick über die Klauen, die zweimal im Jahr geschnitten werden sollen.
Mehr Aufmerksamkeit widmen sie den Schwänzen der Lämmer – jedoch nicht zu deren Vorteil. Meist kupieren sie die Schwänze mit Gummiringen. Die verhindern den Blutfluss, der Schwanz fällt nach zwei bis drei Wochen ab. „Diese für die Lämmer sehr schmerzhafte Praxis ist bis zu ihrem achten Lebenstag ohne Betäubung erlaubt und wird ohne die Gabe von Schmerzmitteln durchgeführt“, merkt Dr. Szczepanek an. Schafe erdulden ihren Schmerz still. Die Lämmchen müssen die qualvolle Prozedur durchstehen, weil bewollte Schafe nach Geburten oder bei Durchfall schnell am Schwanz verschmutzen. In der Folge können sich Fliegenmaden einnisten, die sich im Ernstfall schmerzhaft und mitunter tödlich für das Schaf ins Gewebe fressen. Dennoch ist das Kupieren aus Sicht von Dr. Szczepanek nicht nötig: „Schafhalter*innen können Fliegenmaden vorbeugen, indem sie die Wolle kurzhalten, den Schwanz bei Durchfall scheren, gezieltes Futtermanagement betreiben und langfristig auf geringere Bewollung am Schwanz hinzüchten.“ Darum fordert der Deutsche Tierschutzbund, keinesfalls die Schwänze zu kupieren und Lämmer nicht ohne Betäubung zu kastrieren.
Um das Leid der Osterlämmer langfristig zu verhindern und ihre unsäglich kurzen Leben zu verlängern, hilft vor allem ein alternatives Festtagsmenü. Daher appelliert Dr. Szczepanek: „Bitte verzichten Sie Ostern auf das Fleisch der kleinen Schafe, die aufgrund der hohen Nachfrage bereits nach wenigen Monaten sterben müssen, und feiern Sie lammfromm.“