Autor: Nadine Carstens, Redakteurin DU UND DAS TIER
Mit ihren hellen Flecken auf dem Rücken sind Rehkitze perfekt getarnt. Wenn sie sich im hohen Gras verstecken und fast regungslos auf ihre Mutter warten, sind sie für das bloße Auge so gut wie unsichtbar. Doch genau diese Tarnung, mit der die Natur sie eigentlich vor Fressfeinden schützt, wird ihnen zum Verhängnis. Denn wenn Landwirte ab dem Frühjahr auf schweren Mähdreschern ihre Wiesen mähen, geraten zahlreiche Wildtiere zwischen die Schneidewerke und werden verletzt und getötet. Ein Großteil dieser Mäharbeiten findet nämlich genau dann statt, wenn die Rehkitze gerade geboren sind. Gemeinsam mit ihnen sind junge Feldhasen besonders betroffen – anstatt wegzulaufen, ducken sich beide Tierarten bei Gefahr auf den Boden und werden so leicht übersehen. Die Nester und Gelege von auf Wiesen brütenden Vögeln wie Kiebitze oder Feldlerchen fallen Maschinen und Mähwerken darüber hinaus genauso zum Opfer wie Schlangen, Kröten, Igel und Mäuse. Und das nicht nur bei der Frühjahrsmahd, sondern auch bei der Getreideernte von Mitte Juni bis Ende August.
„Genaue Zahlen, wie viele Wildtiere bei der Mahd und Getreideernte ums Leben kommen, gibt es nicht. Dennoch ist das Mähen ein drastisches Tierschutzproblem, unabhängig davon, ob letztlich 20.000 oder 100.000 Tiere dabei sterben“, sagt James Brückner, Leiter der Abteilung Artenschutz beim Deutschen Tierschutzbund. In jedem Fall dürfte die Zahl in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen sein, denn die Landwirtschaft wurde auf immer größeren Flächen immer weiter intensiviert und die Mähmaschinen deutlich effizienter und schneller. Immer öfter werden daher auch erwachsene Tiere wie brütende Vogelmütter von den Schneidemessern erfasst, da sie nicht rechtzeitig fliehen können. „Die EU-Agrarpolitik begünstigt oftmals eine natur- und wildtierschädliche Bewirtschaftung wie etwa schnell wachsende Grassorten, einen hohen Düngereinsatz und neue Schnitttechniken“, so Brückner. Dadurch müssten Landwirte Grünlandflächen häufiger mähen.
Wenn Tiere zu Tode kommen, entstehen zudem giftige Fäulnisbakterien in den Futtergräsern und -kräutern. Tiere in der Landwirtschaft, die dieses Futter fressen, können erhebliche gesundheitliche Probleme bekommen und sogar sterben. Rechtlich gesehen sind Landwirte durchaus verpflichtet, ihre Flächen nach Wildtieren abzusuchen oder den Jagdpächter zu informieren. „Denn mehrere Urteile haben gezeigt, dass eine Anzeige gegen einen Landwirt Erfolg haben kann – vor allem, wenn dieser wusste, dass sich Kitze auf seiner Wiese befanden“, so Brückner. So oder so sollten Landwirte daran interessiert sein, Wildtiere zu schützen. Dafür gibt es inzwischen zahlreiche Möglichkeiten – von einfachen Vergrämungsmethoden wie Flatterbänder, Knallapparate und Geruchsstoffe bis hin zu modernen Techniken wie Sensorsysteme oder sogenannte Wildretter – elektronische Geräte, mit denen Landwirte zumindest größere Wildtiere aufspüren können. „Die neueste Wildrettergeneration kombiniert Infrarot- und Mikrowellensensoren, um Temperaturunterschiede und Wassergehalt der Umgebung zu messen“, so Brückner.
Landwirte könnten Wildtiere so als „warmes Wasser“ von Wiese, Steinen und Boden unterscheiden und sie aus dem Gefahrenbereich bringen. „Diese Methoden sind allerdings weniger hilfreich bei Feldhasen und Bodenbrütern, da Junghasen und Gelege zwar gefunden werden, diese müssen dann aber mitunter aufgezogen beziehungsweise ausgebrütet werden. Am besten werden in solchen Fällen kleine Flächen als Versteck für diese Wildtiere oder zumindest Randbereiche stehen gelassen.“ Bewährt haben sich zudem Drohnen mit Wildkameras. Auf diese Technik setzen auch die Rehkitzretter Gera des Tierschutzvereins Gera und Umgebung, einem Mitgliedsverein des Deutschen Tierschutzbundes. Seit Projektstart 2018 haben sich bis heute etwa 25 ehrenamtliche Helfer angeschlossen, die sich im Raum Gera, Greiz und Zeitz in Thüringen regelmäßig kurz vor der Grünlandmahd auf die Suche nach Kitzen begeben. „In den frühen Morgenstunden suchen wir mit unseren spendenfinanzierten Wärmebild- Drohnen die Wiesen ab, sichern die Rehkitze und andere Tiere und setzen sie unmittelbar nach der Mahd wieder aus“, schildert eine der Rehkitzretterinnen. „Wir müssen dann sehr vorsichtig im Körperkontakt sein, da das Tier nicht nach uns riechen darf – dann würde die Mutter es eventuell verstoßen.“ Das Team arbeitet deutschlandweit mit verschiedenen Pflegestationen zusammen – wenn sie also zum Beispiel ein Kitz finden, dessen Mutter überfahren wurde, bringen sie es in eine dieser Einrichtungen.
Landwirte, Jäger und Förster können die Rehkitzretter Gera beauftragen. Einige kämen diesem Angebot nach und seien bemüht, die Tiere zu schützen; manche Landwirte würden aber auch versuchen, die Tierschützer von ihrem Grundstück zu verweisen. „Viele stehen unter Zeitdruck und halten es für zu mühselig, uns vorher anzurufen“, sagt die Tierschützerin. Sie hätten es aber auch schon mal erlebt, dass ein Landwirt drei Rehkitze beim Mähen tötete und so schockiert war, dass er daraus gelernt habe. Die Rehkitzretter würden sich wünschen, dass auch Bund und Länder mehr zum Schutz von Wildtieren unternehmen und Landwirte finanziell unterstützen, beispielsweise bei der Anschaffung technischer Hilfsmittel. „Das Umweltministerium von Sachsen-Anhalt hat zum Beispiel einen Tierschutzbeauftragten, der aktiv zum Schutz von Rehkitzen aufruft und Vertreter aus der Landwirtschaft, Jäger und Tierschützer an einen Tisch holt – das bräuchten auch andere Bundesländer.“
Aus Sicht des Deutschen Tierschutzbundes müsste vor allem die Agrarpolitik mehr zu einem nachhaltigen Schutz von Wildtieren beitragen – besonders im Hinblick auf wiesenbrütende Vogelarten. Hierbei wäre es unter anderem sinnvoll, Agrarumweltprogramme weiterzuentwickeln und Landwirte besser zu fördern, damit sie sich die Schutzvorkehrungen und neue Techniken auch leisten können. Grundsätzlich empfiehlt Brückner eine Kombination verschiedener Schutzmaßnahmen, da nicht alle Methoden für jede Tierart gleich wirksam sind. „Viele Tiere könnten zudem gerettet werden, indem die Mahd auf Mitte Juli verschoben wird – dann wäre zumindest die Brut- und Aufzuchtphase vieler Wildtiere vorbei“, sagt er. Doch es gibt noch weitere Möglichkeiten. So können Landwirte auch die Schnittlänge anpassen, sodass sie über die Tiere hinweg mähen. „Wenn sie zudem die Wiesen und Felder von innen nach außen ernten, haben ausgewachsene Tiere die Möglichkeit, rechtzeitig zu fliehen“, so Brückner. Jäger könnten außerdem mit ihren Jagdhunden die Flächen absuchen. „Und natürlich können Landwirte ‚Mähinseln‘ stehen lassen und kleine Flächen, auf denen sich beispielsweise Nester von Bodenbrütern befinden, markieren und einzäunen.“
Bildrechte: Artikelheader: Unsplash; Fotos: Pixabay (Rebhuhn und Hase); Wildtierfotograf Andreas Nowack (Mann mit Kitz)