Autor: Nadia Wattad, Redaktion DU UND DAS TIER
Sie wühlen in städtischen Mülltonnen, jagen Ratten, wälzen sich im Garten und zwitschern lauter als ihre Vogelkameraden im Wald– die Rede ist von Waschbären, Füchsen, Wildschweinen und Co. Doch was treibt diese Tiere überhaupt in die Stadt? „Die Menschen. Zum einen, weil unter anderem die ständig wachsenden Städte ihren natürlichen Lebensraum zerstören. Zum anderen bieten Städte auch neu erschaffene Lebensräume, an die sich die Tiere gut angepasst haben“, so Dr. Tanja Straka, Referentin für Artenschutz beim Deutschen Tierschutzbund. Manche Arten haben sogar gelernt, von den von Menschen erschaffenen Lebensräumen zu profitieren.
Waschbären sind zum Beispiel sehr kreativ in der Nahrungsbeschaffung. In Kassel haben sie gelernt, Mülltonnen zu öffnen, in anderen Städten durchwühlen sie Papiertonnen. Sie finden darin reichlich – von der Wohlstandsgesellschaft weggeworfene – Lebensmittel bis hin zu Essensresten. Wildschweine suhlen sich mit Vorliebe in Kleingärten und finden dort ebenfalls Nahrung auf dem Kompost oder im Gartenbeet. Und auch Steinmarder richten sich gerne in leer stehenden Dachböden häuslich ein. Wenn dann ihre Jungen nachts munter werden und miteinander um die Wette laufen, mutieren sie für die menschlichen Bewohner schnell zu unliebsamen Plagegeistern.
Auch der Fuchs hat städtisches Gebiet für sich entdeckt. Alleine in Köln leben mehr als 1.000 von ihnen. Auf der Suche nach Nahrung sind sie immer häufiger tagsüber unterwegs. Nicht allen Menschen ist die Artenvielfalt in der Stadt geheuer. Besonders der Fuchs wird mit Skepsis betrachtet. „In unseren Köpfen steckt immer noch die Mär von der Tollwut. Wenn er sich also nicht vertreiben lässt oder zahm ist, dann muss er Tollwut haben. Tatsächlich ist aber Deutschland schon seit vielen Jahren tollwutfrei“, so Geva Peerenboom von der Professur Wildtierökologie und Wildtiermanagement an der Universität Freiburg. Insbesondere Berlin ist ein Eldorado für viele wild lebende Tiere geworden. Über 40 Prozent der Stadt bestehen aus Grün- und Wasserflächen. Da Füchse Anpassungskünstler sind, lernen sie schnell, die urbanen Möglichkeiten für sich zu nutzen. Das Nahrungsangebot in der Stadt ist einfach viel größer als im natürlichen Lebensraum.
Lesen Sie ein Interview mit Derk Ehlert, Wildtierexperte des Landes Berlin bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Lesen
Katrin Koch vom Wildtiertelefon Berlin, das der Naturschutzbund Deutschland (NABU) betreut, hat tagtäglich mit zahlreichen Bürgeranfragen zu tun. „Meistens rufen Menschen an, die besorgt sind. Es wird oft erwartet, dass Füchse, Wildschweine oder Waschbären eingefangen und dorthin gebracht werden ‚wo sie hingehören‘ – in den Wald“, bedauert Koch. Ihrer Meinung nach profitieren die Bürger von den Wildtieren. So seien Verhaltensstudien aus nächster Nähe möglich, und das in der eigenen Stadt. „Der städtische Fuchs von heute braucht keinen Wald, sondern hat seinen Bau in ungenutzten Kellern, Bauruinen oder Wohncontainern, Freibadeanlagen und dergleichen mehr. Die haben ihr Leben als Opportunisten und Generalisten dem unseren angepasst“, weiß Derk Ehlert, Wildtierexperte des Landes Berlin.
Das Leibniz-Institut (IZW) für Zoo-und Wildtierforschung begibt sich in Berlin in dem einzigartigen Projekt „Füchse in der Stadt“ auf die Spur von Meister Reineke. „Viele Ängste können durch Information der Bürgerschaft ausgeräumt werden. Im Fuchsprojekt gehen wir noch einen Schritt weiter, indem wir die Bürger aktiv in die Forschung einbinden. Wenn dies gelingt, sehen die Menschen nicht mehr ‚ihre Stadt‘ sondern ‚ihre Füchse‘ “, hofft Fuchsexpertin Sophia Kimmig vom IZW. Das Institut möchte zusammen mit „Bürgerwissenschaftlern“ herausfinden, welche Voraussetzungen nötig sind, dass die aus den natürlichen Landschaften verdrängten Tiere in den Städten leben können. Dass Füchse „Humor“ haben, bewies ein einzelnes Exemplar in Berlin. So hatte ein Ehepaar dem IZW berichtet, dass ein Fuchs ihnen immer wieder Schuhe von der Terrasse stahl, allerdings immer nur ein Schuh pro Paar. Eine Wildtierkamera entlarvte den Fuchs letztendlich als den „Schuhdieb“.
Mit allerlei Kuriositäten kommt auch Ehlert in seinem Joballtag in Berührung: „Das ist der Fuchs, der U-Bahn fährt, das Wildschwein, das an der Bushaltestelle steht und auf Futter hofft, bis hin zu Waschbären, die im großen Parkhaus am Alexanderplatz leben.“ Auch Wildschweine haben es geschafft, sich an ein Leben in gartenreichen Randgebieten anzupassen – manchmal auch zum Leidwesen mancher Gartenbesitzer. Denn auf der Suche nach Futter schieben Wildschweine, die meist in Rotten auftreten, oft die ganze Grasnarbe weg. „Das ist für sie der beste Weg, um an Wurzeln, Würmer, Engerlinge, Schnecken und Blumenzwiebeln zu gelangen. Die Wiesen sehen dann manchmal aus wie umgepflügt“, so Dr. Straka. Für die entstehenden Schäden kommt keine Versicherung auf, denn für Wildschäden, die in einem sogenannten befriedeten Bezirk liegen und auf denen die Jagd ruht, gewährt das Bundesjagdgesetz laut Paragraf 29 keinen Ersatzanspruch.
Auch aus dem Grund findet Kimmig, dass es auf politischer Ebene Verantwortliche geben muss, die sich im Konfliktfall kümmern und Lösungen anbieten. Doch nicht nur die Schäden in den Grünanlagen sind problematisch, auch die Furcht spielt eine Rolle: „Vor allen größeren Arten haben die Menschen eher Angst. Besonders auch vor Wildschweinen“, weiß Peerenboom. Grundsätzlich ist aber nicht jedes Wildschwein ein potenzieller Angreifer. Eigentlich sind sie sogar scheu – allerdings nur in ihrem natürlichen Lebensraum und wenn keine Menschen sie stören. „In Großstädten können Wildschweine durchaus die Scheu vor Menschen weitestgehend ablegen, insbesondere, wenn sie gefüttert werden. Das ist aber strengstens verboten“, so Dr. Straka. Hat die Bache Frischlinge bei sich, kann es für den Störenfried, egal ob Mensch oder Hund, ungemütlich werden. Experten empfehlen, keine hektischen Bewegungen zu machen, die Tiere zu ignorieren und sich dann langsam zu entfernen. Auch im Straßenverkehr kann es leider zu Zusammenstößen mit dem Schwarzwild kommen.
Die ursprünglich aus Nordamerika stammenden plüschigen Waschbären mit ihrer kleidsamen Zorromaske fühlen sich in der Hauptstadt und in anderen Städten ebenfalls sehr wohl. In den 40er-Jahren teils ausgesetzt, teils aus Pelztierfarmen ausgebüxt, haben sie sich bis heute in ganz Deutschland verbreitet. Laut Schätzungen leben in Europa mittlerweile einige Hunderttausend Tiere. In Stadtgebieten finden Waschbären das ganze Jahr über genügend Fressbares auf Rasenflächen, unter Obstbäumen und vor allem auf Kompostplätzen, in Mülltonnen und Papierkörben. Doch sie ziehen auch gerne in Häuser ein, und da hört bei vielen Menschen die Tierliebe auf. Schließlich sind Waschbären hervorragende Kletterer, die schnell die Schwachstellen bei Dachziegeln, Leichtbauwänden und losem Mauerwerk finden. Außerdem gibt es Waschbären, die schon seit Generationen nur in der Stadt leben und genau wissen, dass sich unter Dachziegeln beste Quartiere finden lassen. War ein Waschbär ein paarmal im Haus, wird jeder nachfolgende an den für den Menschen nicht wahrnehmbaren geruchlichen Markierungen sofort erkennen, dass da ein Unterschlupf zu finden ist. Was kann der Mensch also tun?
„Den Aufstieg auf das Dach verhindern, Bäume und Sträucher, die an oder über das Dach reichen, großzügig beschneiden, Zugänge durch Metallgitter absperren, Katzenklappen nachts verschließen oder einen Vorbau bauen“, empfiehlt Dr. Straka. Gefährlich sind Waschbären aber nicht. In Europa übertragen sie keine Tollwut. Damit sich die Tiere gar nicht erst im Garten wohlfühlen, sollten Abfälle für sie unzugänglich sein. „Letzten Endes geht es darum, dass wir lernen, mit Wildtieren in Städten zusammenzuleben. Es ist utopisch, anzunehmen, dass wir Tiere, die sich gut an den menschlichen Lebensraum angepasst haben, aus Städten vollständig ausschließen können“, so Dr. Straka weiter.
Genauso wie der Waschbär fühlt sich auch der Steinmarder in Häusern wohl. Er macht sich meist erst während der Paarungszeit oder bei der Aufzucht der Jungen durch eine entsprechende Geräuschkulisse bemerkbar. Damit er gar nicht erst ein Schlupfloch in das Haus findet, helfen dieselben Maßnahmen wie beim Waschbären. Marder nisten sich auch gerne im Motorraum von Fahrzeugen ein. Nicht immer zerbeißen sie dabei Kühlschläuche und Kabel – eine Folge der Revierverteidigung. Bei allen Konflikten im Zusammenleben: „Die Möglichkeit, wilde Tiere zu sehen, die uns Menschen im Offenland meist verborgen bleiben, empfinden viele Menschen als Naturerlebnis und als Bereicherung“, weiß Sophia Kimmig. Damit das so bleibt, müssen die Stadtbewohner sensibilisiert und aufgeklärt werden. Die Tiere trotz Verbot zu füttern, kann schließlich für das gesamte Ökosystem negative Folgen haben. „Wo die Lebensräume in der Stadt noch relativ ungestört sind, kann eine natürliche Bestandsregulierung durch ‚fressen und gefressen werden‘ funktionieren. Der Fuchs oder auch Greif- und Rabenvögel kümmern sich um verletzte oder kranke Wildtiere – sie leben zu großen Teilen davon“, so Michael Hundt von der Stadt Köln.
Wir sollten uns freuen, „unsere“ Städte mit Wildtieren teilen zu können. Falls wir morgens eine Nachtigall oder eine Amsel besonders laut singen hören, dann liegt das daran, dass sie versuchen, die städtischen Hintergrundgeräusche zu übertönen. Selbst Fledermäuse haben sich in Deutschland an den Lebensraum Stadt angepasst. Von diesem nachtaktiven Tier bekommen viele nichts mit, doch ihrem jagdlichen Geschick haben wir es zu verdanken, dass wir hin und wieder von einer Mücke weniger gestochen werden.