Autor: Verena Jungbluth, Chefredakteurin DU UND DAS TIER
Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt“, sagte einst Kurt Tucholsky. Wie recht er hat. Sie ist so faszinierend, anmutig und steckt voller Wunder. Ist sie nicht alleine deshalb schon erhaltens- und schützenswert? Unsere Erde gibt uns die Luft zum Atmen, ernährt uns und bietet uns all das, was wir zum Leben brauchen. Uns und mehr als acht Millionen weiteren Arten. Ist sie es nicht wert, dass wir um sie kämpfen? „Wir sind die erste Generation, die den Klimawandel vollauf versteht, und die letzte Generation, die in der Lage ist, etwas dagegen zu tun“, fasste Petteri Taalas, Generalsekretär der Weltorganisation für Meteorologie, die Klimadebatte bereits vor einiger Zeit treffend zusammen. Die Erderwärmung ist zwar nur ein Punkt von vielen, seine Aussage aber brisanter denn je und auf verschiedenste Bereiche unseres Lebens übertragbar. Denn wir sind gerade dabei, unsere eigene Lebensgrundlage und die der zukünftigen Generationen zu vernichten. Und das jeden Tag ein Stück mehr. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es die Welt und die Artenvielfalt, wie wir sie heute kennen, nicht mehr lange geben.
Der Globale Zustandsbericht des Weltbiodiversitätsrates ist äußerst besorgniserregend und hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Denn das Artensterben ist laut diesem heute mehrere Hundert Mal größer als im Schnitt der letzten zehn Millionen Jahre und nimmt sogar noch zu. „Etwa eine Million Arten sind aktuell vom Aussterben bedroht, darunter vor allem Amphibien und Korallen sowie Haie, Haiverwandte und Meeressäuger – viele davon bereits in den nächsten Jahrzehnten“, sagt James Brückner, Leiter der Abteilung Artenschutz beim Deutschen Tierschutzbund. Im Schnitt sei das Leben von einem Viertel aller heute existierenden Land-, Süßwasser- und Meereswirbeltiere, Wirbellosen und Pflanzengruppen in Gefahr.
Das ist die Erkenntnis von 145 führenden Wissenschaftlern aus über 50 Ländern, die gemeinsam mit über 300 weiteren Autoren drei Jahre lang mehrere Hunderttausend wissenschaftliche und politische Publikationen ausgewertet haben. Der Hauptbericht des Weltbiodiversitätsrates umfasst mehr als 1.500 Seiten. „Mit ihm existiert nun ein weltweit akzeptierter wissenschaftlicher Sachstand, der verdeutlicht, wie schlecht es um die biologische Vielfalt und die Leistungen der Ökosysteme steht“, sagt Brückner. Mit Leistungen bezeichnen die Wissenschaftler Dinge wie Nahrung und sauberes Wasser, die nicht nur für das Überleben der Menschheit essenziell sind. „75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Meeresfläche sind schon heute stark verändert, über 85 Prozent der Feuchtgebiete bereits verloren. Die Land- und Forstwirtschaft sowie Industrie und der Abbau von Rohstoffen sind dafür genauso verantwortlich wie Aquakulturen, Offshore-Windparks, Ölbohrungen und die Verschmutzung der Umwelt.“
Der Mensch hat in den letzten Jahrhunderten allein um die 680 Wirbeltierarten ausgerottet. Dazu zählen die Pinta-Riesenschildkröte, der Tasmanische Tiger, der Bergwisent, der Östliche Puma und der Chinesische Flussdelfin. „Zwar ist es gelungen, 26 Vogelarten und sechs Huftierarten wie die Arabische Oryx-Antilope und das Przewalski-Pferd zu retten“, merkt Brückner an. Allerdings ist das insgesamt gesehen nur ein kleiner Erfolg. Denn vor allem größere Arten, die nur langsam wachsen und sich vermehren, etwa Nashörner oder Elefanten, Beutegreifer wie Tiger und Schneeleoparden und Arten wie Menschenaffen, die auf einen speziellen Lebensraum angewiesen sind, verschwinden rapide. Der Grund: Sie werden legal oder illegal bejagt und ihre Lebensräume zerstört.
„Auch das Einschleppen sogenannter ‚invasiver‘ Arten bedroht Ökosysteme, vor allem auf Inseln, und sogenannte endemische Arten, also solche, die nur in einem bestimmten Gebiet vorkommen“, sagt Brückner. Mehr als 500.000 Arten bezeichnen die Wissenschaftler bereits als „dead species walking“. „Gemeint sind damit Tiere wie der Weißkopflangur und Jangtse-Glattschweinswal sowie Pflanzen wie der Ohiabaum oder der chilenische blaue Krokus, deren Lebensräume heute schon so stark verändert oder deren Populationen derart zusammengeschrumpft sind, dass sie langfristig keine Chance mehr haben zu überleben.“ Es steht im Grunde jetzt schon fest, dass sie für immer von diesem Planeten verschwinden werden – genau wie beispielsweise auch der Kalifornische Schweinswal, das Sumatra-Nashorn oder einige Arten von Affenbrotbäumen.
Darüber hinaus sind ungefähr zehn Prozent aller Insekten vom Aussterben bedroht. „Ein gewaltiges Ausmaß angesichts der Tatsache, dass fünfeinhalb der acht Millionen bekannten Tier- und Pflanzenarten zu dieser Tierklasse gehören“, sagt Brückner. Verschwinden sie, wird das bedrohliche Konsequenzen für uns alle haben.
Der Bericht des Weltbiodiversitätsrates sollte nicht nur Tier- und Pflanzenliebhaber wachrütteln. Er macht vielmehr deutlich, wie dringend wir die Zerstörung der Natur und den Verlust der biologischen Vielfalt aufhalten und auf allen gesellschaftlichen Ebenen angehen müssen. Denn schuld an dieser Entwicklung ist unzweifelhaft der Mensch. Vor allem, weil wir immer mehr Fläche für uns beanspruchen, die anderen Lebewesen dann fehlt. Frei nach dem Motto „immer höher, schneller und weiter“ hat sich diese Entwicklung in den vergangenen 50 Jahren dramatisch beschleunigt.
„Als direkte Treiber des Artensterbens gelten die immense Landnutzung, die Umweltverschmutzung und der Klimawandel“, sagt Brückner. Um die so massenhaft landwirtschaftlich genutzten Tiere weiden zu lassen oder Ölpalmen anpflanzen zu können, haben wir allein in den Jahren zwischen 1980 und 2000 rund 100 Millionen Hektar Wald gerodet. Das entspricht einer Fläche, die fast dreimal so groß ist wie Deutschland. Auch der Raum, den wir einnehmen, um neue Städte zu bauen und zu erweitern, hat sich nach Angaben der Autoren seit 1992 verdoppelt. „Die größten Auswirkungen auf die Biodiversität in den Meeresökosystemen hat zudem die Fischerei der letzten 50 Jahre“, sagt Brückner.
Auf der Jagd nach immer mehr Fisch dringen die industriellen Flotten in immer mehr Gebiete und tiefere Gewässer ein – viele Bereiche sind längst ausgebeutet. Auf mehr als der Hälfte der Ozeanfläche wird inzwischen industriell gefischt, und ein zunehmender Anteil davon ist alles andere als nachhaltig – ganz zu schweigen von der illegalen Fischerei.
Wir rasen immer weiter auf den Abgrund zu. Und das, obwohl die Ausmaße unseres Raubbaus bereits überall sichtbar und unlängst bekannt sind. Jedes Jahr macht uns der „Earth Overshoot Day“, auch Erdüberlastungs- oder Welterschöpfungstag genannt, aufs Neue klar, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Denn dieser symbolische Tag zeigt, wann die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt. Würden alle Menschen weltweit so leben wie wir in Deutschland, hätten wir dieses Jahr schon am 3. Mai alle Ressourcen verbraucht, die uns für das gesamte Jahr zur Verfügung stehen. Ist das die Art und Weise, wie wir leben möchten?
„Anstatt kopflos weiterzumachen wie bisher, sollten wir uns zu einem nachhaltigen Management und Verbrauch von Ressourcen, reformierten Märkten, einem weltweit gerechten und begrenzten Konsum von tierischem Eiweiß sowie einer Verringerung von Nahrungsmittelverschwendung und -verlusten entwickeln“, fordert Brückner. Gesellschaftliche Ziele wie sauberes Wasser, Gesundheit, Nahrungs- sowie Energiesicherheit und damit eine hohe Lebensqualität für alle können auch – oder gerade erst dann – erreicht werden, wenn wir aufhören, unseren Planeten auszubeuten. Wie Mahatma Gandhi treffend sagte: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“
Aufgrund der extremen Schieflage ist klar, dass es mehrere Maßnahmen gleichzeitig geben muss, die sich wechselseitig verstärken. Neben jedem Einzelnen, der darauf achten sollte, nachhaltig zu leben, macht der Bericht des Weltbiodiversitätsrates auch klar: Jetzt ist die Politik gefragt. Gesetze und politische Maßnahmen können sowohl einen generellen Wandel im Umgang mit unseren Ressourcen bewirken als auch den Rahmen schaffen, damit sich das gesamtgesellschaftliche Denken und Verhalten ändert. Darüber hinaus müssen bereits bestehende Schutzmaßnahmen der Tier- und Pflanzenwelt verbessert und ausgebaut sowie neue Schutzgebiete eingerichtet, die illegale Jagd und der illegale Handel bekämpft und das Einbringen invasiver Arten gestoppt werden. Zudem muss es das oberste Ziel sein, die globale Erderwärmung auf weniger als zwei Grad zu begrenzen. Das würde nicht nur unsere Erde und unsere Mitgeschöpfe vor dem Aussterben retten, sondern auch uns selbst.
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