Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER
„Wir hätten nicht mehr alle Tiere rechtzeitig abtransportieren und sicher anderenorts unterbringen können. Dafür fehlten Zeit und Fahrzeuge. Darum haben wir uns dafür entschieden, möglichst viele von ihnen in höhere Lagen zu bringen“, berichtet Patrick Boncourt. Der stellvertretende Leiter des Tierschutzzentrums Weidefeld des Deutschen Tierschutzbundes und das dortige Team haben am 20. und 21. Oktober die wohl dramatischsten Stunden ihrer Tätigkeit in Kappeln an der Schlei erlebt. Denn die 13 Hektar große Anlage befindet sich – von der Aussichtsplattform an der Bärenanlage aus – in Sichtweite der Ostsee. Diese idyllische Lage drohte zum Verhängnis zu werden, als die später von den Medien als „Jahrhundert-Sturmflut“ bezeichnete Naturgewalt im Herbst wütete. Die Wassermassen hatten so lange auf den Deich in unmittelbarer Nähe gedrückt, dass dieser nur rund 1.100 Meter vom Tierschutzzentrum entfernt nachgab und eine Überflutung des Geländes nicht ausgeschlossen werden konnte.
Schon am Mittag des 20. Oktobers hatte Katrin Umlauf, Leiterin des Tierschutzzentrums, aufgrund steigender Pegel angeordnet, die Hochwasserschutzwände der Bärenanlage zu installieren. „Doch selbst nachdem diese Arbeiten zwei Stunden später abgeschlossen waren, erschien es uns unrealistisch, dass die Lage in der Nacht derart eskalieren würde“, erläutert Umlauf. Gegen 22 Uhr erhielt Boncourt aus dem Veterinäramt den Anruf, dass der Deich gebrochen und die Feuerwehr im Einsatz sei, um den Wasserdurchtritt einzudämmen und das Loch abzudichten. Binnen kürzester Zeit erreichte das Tierpfleger*innenteam den gewohnten Arbeitsplatz im Ausnahmezustand, um Hausmeister Ralf Petersen, der auf dem Gelände wohnt, zu unterstützen. „Die Feuerwehr musste die Rettungsversuche vorübergehend einstellen, da sie gegen die Sturmflut nicht ankam. Sandsäcke konnte sie uns nur für die Verwaltung zur Verfügung stellen, da hier Personen wohnen. Für die Tierhaltung würde es keine Sandsäcke geben, erfuhren wir“, berichtet Boncourt. Also galt es, die Tiere aus den Stallungen heraus in sicherere Abschnitte auf dem Gelände zu bringen.
Alle Helfer*innen mussten kreative Lösungen finden, denn das weitläufige Tierschutzzentrum liegt nur knapp über dem Meeresspiegel, bietet dabei aber dennoch viele unterschiedliche Höhen. Die Topografie des Geländes und die Gestaltung einiger Gebäude machte sich das Team zunutze, um möglichst schnell möglichst viele Tiere aus der Gefahrenzone herauszuholen. Die Tierpfleger*innen und Auszubildenden führten beispielsweise die Pferde auf den Wirtschaftshof der Bärenanlage. „Dort hätten sie im Überflutungsfall die Fläche des erhöht stehenden Notstromaggregats und das Dach der Bärenfutterküche nutzen können“, sagt Boncourt. Da sie die Tarpane, also Wildpferde, nicht mit ihnen unterbringen konnten, ließen sie sie stattdessen „frei“. So konnten die Tiere, die seit 20 Jahren in Weidefeld leben und das Gelände bestens kennen, das gesamte Areal nutzen, um sich im Bedarfsfall selbstständig zu retten. Da das ehemalige Militärgelände noch immer durch eine Reihe von Bunkeranlagen gekennzeichnet ist, die auch als Stallungen dienen, benötigten die Schweine keine Hilfe, da sie sich auf die Dächer ihrer Bunker hätten retten können. Diese speziellen Gegebenheiten nutzte das Team auch für die Schafe, die sie auf das Bunkerdach innerhalb der Greifvogelvoliere brachten. Die Hühner stellten die Mitarbeiter*innen in Transportboxen auf dem Dachboden des Hundehauses unter. Die Ziegen, die sich zu dem Zeitpunkt des Sturms mit Verdacht auf eine Durchfallerkrankung durch Parasiten in Quarantäne befanden, verluden sie für die Stunden der drohenden Flut auf die Ladefläche eines Lasters und parkten ihn am höchsten Punkt des Tierschutzzentrums. „Unser Reptilienhaus wurde bereits während des Baus erhöht gesetzt und die Papageienhäuser stehen ebenfalls relativ hoch“, so Boncourt. „Auch die Affen konnten wir in der Kürze der Zeit nicht evakuieren, aber wir haben die Türen nach draußen verschlossen und auf den Ästen im Inneren hätten die Tiere im Bedarfsfall hoch genug klettern können.“
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Unter höchster Anspannung und vollem Körpereinsatz gaben die Frauen und Männer in Weidefeld alles, um ihre Schützlinge vor dem drohenden Ertrinken zu schützen. Bis der Wind nachließ, die Feuerwehr ihren Einsatz wieder aufnehmen und den Durchbruch sichern konnte. „Das Team hat großartige Arbeit geleistet und zügig alle möglichen Rettungsmaßnahmen umgesetzt. Darum haben wir spätestens da natürlich auch die Sicherheit unseres Personals in den Fokus gerückt und für den Fall, dass der Deich im Laufe der Nacht nochmals oder an weiteren Stellen brechen sollte, alle Anwesenden nach Hause geschickt“, erklärt Boncourt. Schlaf bekamen die meisten nach diesen dramatischen Stunden nur wenig, aber zum Glück konnten sie direkt am folgenden Morgen die Tiere wieder in ihre regulären Haltungen zurückbringen. Die Bilanz der aufwühlenden Nacht: Der Deich war an mehreren Stellen gebrochen und die Sturmflut hatte die dortige Düne verschlungen. Im Tierschutzzentrum hat der Sturm aber nur einen Dachziegel des Verwaltungsgebäudes herausgerissen und – das Allerwichtigste – die Tiere waren durchweg, von Klein bis Groß, unversehrt. „Dafür danken wir allen Helfer*innen am Deich und hier auf dem Gelände für ihren schnellen und effizienten Einsatz in dieser Gefahrensituation ausdrücklich“, lobt Umlauf. „Wir werden dennoch überlegen müssen, wie wir für die Zukunft noch besser vorsorgen können und ob wir bauliche Schutzmaßnahmen ergreifen müssen. Denn niemand hier glaubt, dass die nächste Sturmflut erst wieder in 120 Jahren auftreten wird.“
Bildrechte: Artikelheader: stock.adobe.com – bevisphoto (Meer); Fotos: Deutscher Tierschutzbund e.V. (Tarpane, Hochwasserschutz)