Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER
Herr Flamme, Corona hält die Welt weiterhin in Atem. In unseren Wäldern – so sollte man meinen – ist die Pandemie weniger relevant, doch Sie als Rehschützer haben die Erfahrung gemacht, dass sich das Virus auch im Wald auswirkt. Wie genau?
Es fällt auf, wie viele Menschen sich während der Pandemie einen Hund angeschafft haben. Das erlebe ich nicht nur anhand der Abschlüsse von Tierhaftpflichtversicherungen in meinem beruflichen Alltag bei einer Versicherung. Auch in unserem Tierschutzalltag kommt es immer häufiger zu Zwischenfällen, unter denen die Wildtiere leiden. Viele Halter lassen ihre Hunde im Wald oder an Feldern unbedarft laufen und unterschätzen, dass selbst ansonsten gut horchende Hunde im Jagdeifer schnell außer Kontrolle geraten. Darum haben solche Notfälle deutlich zugenommen.
Mit welchen Problemen setzen Sie sich zudem im Alltag auseinander?
Das Notfallspektrum ist über die Jahre – ich bin jetzt seit 16 Jahren dabei, unsere Vorsitzende Carla Winhausen, die den Verein gegründet hat, sogar schon seit 1997 – echt groß geworden. Wir kümmern uns ja im Grunde um alle verwaisten Wildwiederkäuer, also auch um Rotwild, Damwild, Mufflons. Carla hilft, ob persönlich oder aus der Ferne beratend, sogar bei der Rettung von Steinböcken, Elchen oder Rentieren. Die Menschen rufen sie aber auch an, wenn sie Eichhörnchen, Wildgänse oder Wildkaninchen finden. Bei den Rehen spielen neben den bereits genannten Zwischenfällen auch Krankheiten wie Würmer eine wichtige Rolle. Beispielsweise gibt es eine Fliegenart, die ihre Eier in die Nasenlöcher von Kühen oder Rehen legt. Ihre Maden greifen dann die Tiere an. Auch Vergiftungen und natürlich die Mahd und Ernten gefährden Rehe, wobei wir bei letzteren leider meist keine Rettungschance mehr haben. Da können Drohnen ein Hoffnungsträger sein, um solchen Unfällen vorzubeugen. Unsere Gründerin sucht in Zusammenarbeit mit den Jägern die Wiesen im Umfeld ihres Heimatortes vor dem Mähen nach Rehkitzen und anderen Wildtieren ab und kann so verhindern, dass sie Opfer der Mähwerke werden. Auch Kitze, die ihre Mütter verloren haben, betreuen wir oft. Und nicht zuletzt beschäftigen uns leider oft auch weitere Notfälle, die hausgemacht sind.
Da gibt es das Problem der Spaziergänger und Fahrradfahrer, die durch die Wälder ziehen. Gerade E-Bikes sind schnell wie Motorroller und fahren teilweise kreuz und quer. Die Rücksichtslosigkeit vieler Menschen nimmt zu. Sie weichen von Wegen ab, lassen Müll zurück und vergessen völlig, dass sie sich im Lebensraum, in der Kinderstube der Tiere befinden, in der wir uns ruhig verhalten sollten. Werden Tiere verscheucht oder Mutter und Kitz getrennt, suchen die Jungtiere oft ungewöhnliche Stellen auf. Das kann mitten auf dem Weg oder im Straßengraben sein. Dies liegt daran, dass sie bis zu einem gewissen Alter geruchsneutral sind. Füchse beispielsweise können sie darum in der Regel gar nicht aufspüren. Für den Ernstfall liegen zwei Jungtiere auch in der Regel nicht gemeinsam bei der Mutter, sondern oft 20 Meter entfernt voneinander im Gras. Passanten meinen jedoch, die Tiere, die erstarrt wirken und sich wegdrücken, um unbemerkt zu bleiben, bräuchten Hilfe. Sie schleppen sie nach Hause und wollen – sicher in guter Absicht – helfen. Dann haben wir schon Fälle erlebt, in denen sie ihnen Kondensmilch, Kakao oder Kuhmilch geben. Das ist über kurz oder lang tödlich, weil sie zu wenig Eiweiß und zu viel Zucker enthalten. Auch die umgehende Auswilderung ist dann nicht mehr möglich, wenn sich der Geruch der Kitze durch den menschlichen Kontakt bereits geändert hat und die Zeitspanne seit der Aufnahme bereits zu lang ist. Das vorrangige Ziel kann es nur sein, Notfälle zu vermeiden. Darum ist es unser größter Wunsch, dass die Menschen achtsamer werden und mit ihrer Umwelt anders umgehen. (Hier erhalten Sie Informationen, wie Sie sich verhalten sollten, wenn Sie ein verletztes Wildtier oder einen Jungvogel finden.)
Ob verletzt, verwaist oder voreilig von Passanten aufgenommen: Wie kümmert sich die Rehkitzhilfe um die Findlinge?
Strenggenommen ist das ein Fulltime-Job, gerade wenn Sie Kitze großziehen. Unsere Vorsitzende Carla Winhausen ist im wahrsten Sinne des Wortes rund um die Uhr für die Rehe im Einsatz. An sieben Tagen in der Woche. Dazu ist sie mit ihrem immensen Fachwissen anerkannte und gefragte Ansprechpartnerin für Tierärzte, Jäger, Förster, Tierheime oder Behörden. Wer sich mit so viel Herzblut für die Rettung und Pflege der Tiere einsetzt, hat gar keine Zeit, einem anderen Beruf nachzugehen. Denn die ganz jungen Tiere brauchen per se alle zwei Stunden eine Flasche. Dabei bereiten wir die Milch, meist von Ziegen oder je nach Zusammensetzung der Nährstoffe auch von Schafen, vor. Wenn sie zu heiß ist, ist das für die Kitze gefährlich. Wenn sie zu kalt ist, trinken sie sie nicht oder bekommen Probleme mit der Verdauung. Wenn wir den Tieren Milch geben, massieren wir gleichzeitig den Po, wie es die Mütter sonst beim Säugen machen würden. Während Kitze trinken, lassen sie oft Kot. Das muss man alles wissen. Das gilt auch dafür, was die Tiere vertragen, nämlich beispielsweise nicht jedes Antibiotikum. Zudem müssen Sie es spritzen und nicht oral geben, weil sie Wiederkäuer sind. Vielen Helfern wachsen dabei die Kosten über den Kopf. Das Milchpulver kostet, die medizinische Versorgung – zu der sich natürlich auch nicht alle Tierärzte, die sonst Hunde, Katzen und Co. betreuen, in der Lage sehen – ebenfalls. Futter ist ein Riesenthema, denn das Nahrungsspektrum ist ausgesprochen vielfältig und ändert sich mit den Jahreszeiten. Die Laubherstellung für den Winter beispielsweise ist ein großer Aufwand. Über den Sommer schneiden wir Kräuter und belaubte Äste, um Vorräte anzulegen. Und natürlich brauchen sie passende Gehege, da kommt viel auf einen zu.
Sie sprechen die Gehege an. Wir bringen Sie die Tiere denn unter?
Dazu muss man vielleicht zunächst sagen, dass wir natürlich nicht jedes Tier versorgen können, das die Menschen finden. Carla Winhausen berät auch sehr viele Anrufer aus ganz Deutschland telefonisch. Dort leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe und können idealerweise die eben beschriebenen Notfälle, die keine sind, verhindern, wenn uns die Anrufer kontaktieren, bevor sie Tiere mitnehmen. Teilweise erreichen sie sogar Anrufe aus Italien, Skandinavien oder den USA. Ihr Telefon steht selten lange still. Zudem haben wir Pflegestellen, an die wir Tiere vermitteln können. Wenn wir sie selbst aufnehmen, haben wir jeweils ein großes Rehgehege, eines misst 10.000, das andere 6.000 Quadratmeter. Und natürlich möchten wir, dass das Gehege artgerecht ist. Ich habe es beispielsweise von Anfang an so aufgebaut, dass es den Tieren unter anderem überall Deckung durch Bäume und Büsche bietet oder am Zaun entlang ein Sichtschutz angebracht ist. Denn Rehe brauchen das Gefühl, nicht gesehen zu werden, aber selbst alles sehen zu können. Dennoch muss ich, der ich mich um sie kümmere, natürlich nach ihnen schauen. Jeden Morgen stehe ich um halb Sechs auf und bin draußen bei den Tieren. Es ist wichtig, sie alle im Blick zu haben, denn sollten sie krank sein und ich erkenne das erst, wenn sie Symptome zeigen, ist es in der Regel schon kurz vor Zwölf. So habe ich alle im Blick und merke sofort, wenn mit einem Tier etwas anders ist. Man muss für und mit den Tieren leben. Wenn Sie nicht hundertprozentig dahinterstehen, funktioniert es nicht.
Was fasziniert Sie so an den Rehen?
Es ist unter anderem das Unschuldige, wenn man die sie nach menschlichem Ermessen betrachtet. Rehe sind friedliche Tiere. Wer ständig mit ihnen zu tun hat, stellt fest, dass sie untereinander sehr liebevoll sind und sich gegenseitig pflegen. Für mich ist es aber auch der Reiz des Komplizierten, der mich für die Tiere begeistert. Wenn Sie sie halten oder großziehen wollen, müssen Sie sich komplett auf sie einstellen. Wenn ich aufgeregt bin und unter Spannung stehe, überträgt sich das auf sie, ähnlich wie bei Pferden. Es ist etwas ganz Besonderes, wenn es gelingt, ein Verhältnis aufzubauen und ein Reh großzuziehen. Anders als bei einem Schaf oder Mufflon, die von Natur aus nicht so schreckhaft sind und die Sie nicht so leicht irritieren können, brauchen wir für ein Rehkitz unheimlich viel Geduld, Liebe und Zeit. Sonst funktioniert es nicht.
Wie gelingt Ihnen dies?
Mit der Zeit habe ich mich komplett auf die Tiere eingestellt und beispielsweise gelernt, Geräusche aus ihrer Sicht zu hören. Wenn Sie ein Rehgehege haben, ist es wichtig, auch akustische Gefahrenquellen auszuschließen. Außergewöhnliche Geräusche wie ein Heißluftballon über dem Gehege sind eine Katastrophe. Da wird man mit der Zeit ganz sensibel und ich mache mich auch immer wieder bei den Nachbarn unbeliebt. Seit 16 Jahren verbringe ich Silvester im Rehgehege bei den Tieren, um sie zu beruhigen. Auch die unterschiedlichen Jahreszeiten bekommen mit Rehen eine zusätzliche Faszination. Den Wechsel von Sommer- zu Winterfell oder die Brunftzeit, die bei nichtkastrierten Ricken zweimal jährlich vorkommt, zu durchleben, ist sehr spannend. Dann sind die Tiere teilweise völlig von Sinnen. Zudem ist es über das Jahr verteilt natürlich manchmal zu heiß, manchmal zu kalt. Jeder Sturm versetzt einen in Alarmstimmung.
Unwetter haben Ihnen in diesem Jahr ohnehin zugesetzt.
Ja, auch wir hatten mit den Auswirkungen des Starkregens und des Hochwassers zu kämpfen. Bei Carla Winhausen standen sämtliche Stallanlagen unter Wasser, alles ist abgesoffen, aber die Tiere sind unversehrt. Unter anderem ist die Futterkammer vollgelaufen, das Wasser hat die Fugen aus den Wänden gespült, alle Futtersäcke durchnässt und den Kühlschrank zerstört. Auch bei den Stürmen in der Vergangenheit waren wir betroffen. Darum sind wir sehr dankbar, dass der Deutsche Tierschutzbund uns finanziell unterstützt, um einen mobilen Stall auf Rädern anzuschaffen, den wir einfach an ein Auto hängen können, um die Tiere schnell zu evakuieren, wenn solche Unwetterlagen erneut auftreten – und den wir natürlich bei Einsätzen nutzen. Auch meine Rehe sind schon wegen der Lautstärke des Unwetters beinahe Amok gelaufen. Durch mein Gehege läuft ein kleiner Bach. Das ist eigentlich ein Rinnsal von 30 Zentimetern, der dann einen Meter breit war. Weil das Ablaufrohr nicht alles aufnehmen konnte, hat sich das Wasser gestaut und Teile des Geheges unterspült. Den Tieren ist nichts passiert, aber ich musste alles notdürftig abdichten, den Bachlauf neu konstruieren und habe nun drei Abflussrohre.
Sie investieren seit 16 Jahren fast ihre komplette Freizeit für die Tiere. Welche Fälle sind Ihnen in dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben?
Jeder Fall ist besonders, weil es sich immer um ein Lebewesen handelt, das sich total von dem davor oder danach unterscheidet. Jedes ist einzigartig. Für jemanden, der sich nicht auskennt, sehen Rehe alle gleich aus. Für mich ist jedes anders, optisch und auch von seinen Eigenarten. Aber es gibt sicherlich Fälle, die einem nicht aus dem Kopf gehen, wie das erste Reh, das am Hof meiner Familie schwer verletzt im Zaun hing. Es war der Auslöser, dass ich heute mittendrin bin. Damals wussten wir nicht, was zu tun ist und riefen den Jagdpächter an. Er wollte das Tier erlösen, aber da haben wir recherchiert und die Homepage der Rehkitzhilfe entdeckt, denn ich war schon immer pro Tier. So ist das entstanden. Eine Geschichte, dir mir auch noch einfällt, war ein Fall, bei dem uns der Landestierschutzverband Nordrhein-Westfalen um Hilfe gebeten hat. Es ging um Menschen, die es gut gemeint hatten, aber letztlich Animal Hoarding betrieben haben. Das Haus war sehr verwahrlost, hat gestunken, war voller Hunde. Und zwei ausgewachsene Rehe lebten im Keller. Auf höchstens 20 Quadratmetern. Ich habe die Tiere im Keller gefangen. Das war extrem wild, denn ein ausgewachsenes Reh fangen Sie nicht einfach so. Ich habe sie sediert, in eine Außenstation gebracht und von dort aus wurden sie letztlich ausgewildert. Einmal sollte ich an meinem Geburtstag Rehkitze übernehmen, bin 50 Kilometer gefahren, aber als ich dort ankam, waren sie so schwach, dass sie mir auf der Rückfahrt verstorben sind. Ich habe sie auf dem Standstreifen beatmet, aber wenn sie zu sehr ausgetrocknet sind, versagt das Gehirn. Solche gruseligen Fälle bleiben hängen, aber zum Glück gibt es viele, viele positive Fälle, in denen wir helfen konnten und helfen können.
Bildrechte: Artikelheader: Unsplash - Vincent van Zalinge; Fotos: Rehkitzhilfe e.V.