Zeit für den Wandel

Aus dem Print-Magazin

Zeit für den Wandel

Lange galten Tierversuche als unverzichtbar für den medizinischen Fortschritt. Doch längst gibt es bessere, präzisere und vor allem tierleidfreie Alternativen. Eine Vielzahl von Methoden, die ohne Versuchstiere auskommen, ersetzen bereits die oft standardmäßig eingesetzten Tierversuche und bewahren damit Tausende Mäuse, Kaninchen und Co. vor Qualen. Um das tatsächliche Ende der Tierversuche voranzutreiben, braucht es jedoch einen kulturellen Wandel in der Wissenschaft und mehr Unterstützung durch die Politik.

  • Autor: Joscha Duhme, Redakteur DU UND DAS TIER

Wenn die Kaninchen mit ihren traurigen Augen, ihrem flauschigen Fell und ihren unverkennbaren langen Ohren in den engen Boxen sitzen, stellt sich auch von außen betrachtet ein Gefühl von Enge, Unbehagen und Mitleid ein. Beklemmender geht es kaum. Für die betroffenen Kaninchen gilt dies leider im wahrsten Sinne des Wortes. Über Stunden müssen sie im Labor verharren, bis zum Hals fixiert, nachdem ihnen mit einer Spritze ein Medikament ins Ohr injiziert wurde. Dabei stehen die Fluchttiere extrem unter Stress. Sie haben ein Fieberthermometer im After, seit dem Vorabend kein Futter erhalten und können auch jetzt weder fressen noch trinken oder sich putzen und mit Artgenossen interagieren. Solche Bilder gehen uns an die Nieren – aber bald gehören sie der Vergangenheit an. Denn der Kaninchen-Pyrogentest, der nachweisen soll, ob Medikamente durch sogenannte Pyrogene verunreinigt sind und dadurch Fieber auslösen, wird ab 2026 europaweit durch tierversuchsfreie Methoden ersetzt. „Das ist ein historischer Erfolg“, sagt Kristina Wagner, Leiterin der Abteilung Tierversuchsfreie Wissenschaft beim Deutschen Tierschutzbund. Die Geschichte der Pyrogentests ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Wandel hin zu Experimenten ohne Tierleid. Diesen treiben Wagner, ihr Team nd viele Wissenschaftler*innen weltweit voran, damit es kein positiver Einzelfall bleibt.

Über 1,2 Millionen Mäuse wurden 2022 in deutschen Laboren in Tierversuchen eingesetzt.

Denn das nahende Ende der Pyrogentests an Kaninchen ist zwar wegweisend, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Rund 20.000 Kaninchen, die zuletzt jährlich in Europa dafür eingesetzt wurden, bleibt dieses Leid bald erspart. Den restlichen 1,7 Millionen Tieren, die allein in Deutschland – so viele waren es 2022 – jährlich für Tierversuche genutzt werden, hilft dies noch nicht. Es ist kaum auszuhalten, was ihnen widerfährt. Wenn Mäusen etwa Mäusekot in die Bauchhöhle gespritzt wird, um eine Blutvergiftung auszulösen, an der ein Großteil innerhalb von 48 Stunden stirbt. Oder Schweinen Stents gesetzt werden, die ihre Adern verengen, um die Auswirkungen von Gefäßverstopfungen beim Menschen zu simulieren. In einer anderen Versuchsreihe zogen Forscher*innen Hunden ein Viertel der Zähne, bauten den Kiefer wieder auf und implantierten Prothesen. Nach der Heilung wurden die Tiere getötet, um die Kieferknochen zu untersuchen.

Einst revolutionär, heute überholt

Und doch zeigt das baldige Ende der Kaninchen-Pyrogentests, dass nicht nur Tierschützer*innen immer lauter fragen: Sind Tierversuche noch verhältnismäßig angesichts des Fortschritts tierfreier Methoden? Nach über einem Jahrhundert, in dem Kaninchen in den Tests verwendet wurden, um die Sicherheit von Medikamenten zu gewährleisten, lautet die Antwort für diesen Fall ohne Zweifel „Nein“. „Was einst als revolutionär galt, ist heute nicht nur überholt, sondern auch ethisch und wissenschaftlich fragwürdig“, erklärt Prof. Thomas Hartung, der Biochemische Pharmakologie an der Universität Konstanz und Evidenzbasierte Toxikologie an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health lehrt. Gleichzeitig ist er Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing in Europe und ergänzt, dass Kaninchen-Pyrogentests oft unzureichende und irreführende Ergebnisse liefern. „Die Unterschiede zwischen der Physiologie von Kaninchen und Menschen führen häufig zu falschen Schlussfolgerungen, was die Sicherheit von Medikamenten betrifft.“

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30 Jahre Forschung führen zum Durchbruch

Hartung hat mit weiteren Wissenschaftler*innen den Monozyten-Aktivierungstest (MAT) entwickelt. Statt auf Kaninchen setzt er auf menschliches Blut. Dazu kommt die zu prüfende Substanz in eine Blutprobe. Falls sie Pyrogene enthält, der Stoff also verunreinigt ist, lassen sich im Blut bestimmte Entzündungsbotenstoffe nachweisen. Der MAT hat gegenüber dem Tierversuch nicht nur den Vorteil, dass er Tiere verschont. „Das Problem der artspezifischen Unterschiede zwischen Kaninchen und Mensch wird vermieden. Der Test kann Pyrogene in noch niedrigeren Konzentrationen nachweisen, ist im Vergleich kostengünstiger und spart Zeit. Zudem lässt er sich mit weniger als einem Milliliter Blut durchführen“, berichtet Wagner. Und doch hat es rund 30 Jahre seit dem Forschungsstart gedauert, bis die Europäische Arzneibuch-Kommission beschlossen hat, den Tierversuch ab 2026 endgültig aus den gesetzlichen Vorgaben zu streichen und zu ersetzen. „Das zeigt, dass ein solcher Wandel hin zu einer innovativen und tierversuchsfreien Wissenschaft immens viel Zeit braucht, auch, weil das System der Tierversuche das Bestreben hat, sich selbst zu erhalten“, so Wagner. Auch Hartung sieht große Herausforderungen, bis die beteiligten Gruppen ethische Verantwortung übernehmen. „Es bedarf eines intensiven Dialogs zwischen Wissenschaftler*innen, Regulierungsbehörden und der Industrie, um gemeinsame Standards zu entwickeln und innovative Methoden schneller in die Praxis umzusetzen.“

Tierversuche können Fortschritt aufhalten

Noch immer fließen Milliarden in Tierversuche. Ein hartnäckiger Kern von Forscher*innen hält daran fest und setzt Tierversuche mit wissenschaftlicher Exzellenz gleich. „Die Qualität wird leider in vielen Fällen an der Anzahl der Fachartikel in renommierten Wissenschaftsmagazinen gemessen und nicht daran, wie vielen Menschen die leidvollen Experimente wirklich helfen.

Ein Groẞteil der Medikamente, die im Versuch an Affen oder anderen Tieren erfolgreich waren, scheitern in Studien beim Menschen, weil sie unerwartete Nebenwirkungen verursachen oder nicht so wirksam sind, wie erhofft.

Teilweise halten Tierversuche aufgrund irreführender Ergebnisse den Fortschritt der Medizin sogar eher auf“, sagt Wagner. Tatsächlich scheitert etwa der Großteil der Medikamente, die im Tierversuch erfolgreich waren, in späteren Studien beim Menschen – weil sie unerwartete Nebenwirkungen verursachen oder nicht so wirksam sind, wie erhofft. Umgekehrt reagiert zum Beispiel Kaninchenhaut, die dünner ist und mehr Poren hat, empfindlicher auf Chemikalien als unsere Haut.

Publikation zeigt Vielfalt der Methoden ohne Tiere

„Diese Fehlschläge verursachen enormes Leid für die Versuchstiere, immense Kosten für die Pharmaindustrie und sie belasten unsere Gesundheitssysteme“, sagt die Expertin. Aber – und das zeigt der Deutsche Tierschutzbund in seinem kürzlich veröffentlichten „Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft“ – die Vielfalt und Möglichkeiten der Methoden ohne Tiere sind schon heute groß. Die Publikation richtet sich an alle, die sich mit dem Thema fachlich auseinandersetzen wollen. „Das Thema Tierversuche und tierversuchsfreie Wissenschaft ist sehr komplex und wird sogar in Fachkreisen oft kontrovers und hoch emotional diskutiert. Mit unserem Wegweiser wollen wir notwendige Hintergründe für einen konstruktiven, sachlichen Diskurs liefern und zeigen, dass die Vision einer tierversuchsfreien Wissenschaft keine Utopie ist. Dazu gehört insbesondere auch das Wissen um tierversuchsfreie Methoden“, erklärt Wagner. Darum stellen die Autor*innen neben grundlegenden Infos, offiziellen Zahlen und Hintergründen zu den liebenswerten eingesetzten Tierarten 16 gängige Tierversuche und die entsprechenden tierversuchsfreien Methoden und Forschungsansätze gegenüber. Dazu gehören Zelltests, 3D-gedruckte menschliche Hautmodelle, Computersimulationen, künstliche Intelligenz oder sogenannte Organoid-Modelle.

„Teilweise halten Tierversuche aufgrund irreführender Ergebnisse den Fortschritt der Medizin sogar eher auf.“
– Kristina Wagner

Hunde leiden nicht nur in den Tierversuchen selbst, sondern auch unter massivem Bewegungsmangel und Isolation.

Organmodelle statt krank gezüchteter Tiere

„Organoide sind winzige Modelle von menschlichen Organen, die im Labor gezüchtet werden. Mit Organ-on-a-Chip-Systemen gibt es sogar winzige Nachbildungen von Organsystemen auf einem einzigen Kunststoffplättchen“, berichtet Wagner. Die darauf enthaltenen Organstrukturen sind über feine Kanäle miteinander verbunden, durch die eine blutähnliche Flüssigkeit fließt. Sie versorgt die Organmodelle mit Nährstoffen und simuliert das Kreislaufsystem. Damit haben sie das Potenzial, Millionen von Tierversuchen überflüssig zu machen, für die Tiere unter anderem erst krankgemacht werden. Denn viele Erkrankungen, an deren Therapie mit dem Einsatz von Mäusen, Ratten, Schweinen oder Katzen geforscht wird, kommen bei den Tieren von Natur aus gar nicht vor. „Darum werden ihnen manuell Verletzungen zugefügt, sie erhalten schädliche Substanzen oder werden genetisch manipuliert“, berichtet Wagner.

Mäuse bekommen Rheuma nicht auf natürlichem Weg

So ahmen Forschungsteams viele Krankheiten nach, von Krebs über neurologische Erkrankungen bis hin zu solchen der Haut. Rheuma etwa, eine entzündliche Gelenkerkrankung, wird an Mäusen erforscht, die sie auf natürlichem Wege niemals bekommen würden. Deshalb erzeugen Forscher*innen sie zum Leidwesen der Tiere künstlich. „Dann entzünden sich einzelne Gelenke, aber auch die ganze Pfote, was bei der Maus große Schmerzen verursachen kann. Dann fällt es ihr erheblich schwerer, sich zu bewegen.“ In den Forschungsberichten ist nicht ersichtlich, ob die Tiere Schmerzmittel erhalten. Und auch die Aussagekraft der Ergebnisse bleibt fragwürdig. Darum setzt die tierversuchsfreie Wissenschaft große Hoffnung in moderne Methoden wie Organ-on-a-Chip-Systeme, die die Entwicklung von Medikamenten und Therapien deutlich beschleunigen könnten. Die Vision ist der „Body-on-a-Chip“, mit dessen Hilfe Wissenschaftler*innen individuell vorhersagen können, wie der ganze Körper einzelner Patient*innen auf Medikamente und Therapien reagieren wird. Das könnte Tierversuche gänzlich überflüssig machen. „Trotz des enormen Potenzials gibt es noch einige Hürden zu überwinden“, erklärt Wagner. Bislang können Forscher*innen unter anderem die komplexe Physiologie eines Gelenks, wie etwa des Knies, noch nicht realistisch abbilden. Auch Schmerzen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen können sie mit den bisherigen Modellen noch nicht reproduzieren.

Nagetiere wie Ratten werden aufgrund ihrer Größe, Genetik, kurzen Generationszeit und vergleichsweise unkomplizierter Haltungsbedingungen am häufigsten für Gentechnik-Experimente verwendet

Unsere Forderungen

„Die tierversuchsfreie Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant weiterentwickelt. Sie kann das Leid in den Laboren beenden und darüber hinaus ein echter Motor für Innovation und Fortschritt sein“, merkt Wagner an. Tierversuche lassen sich zwar nicht von heute auf morgen abschaffen. Zu wenig wurde in den letzten Jahrzehnten dafür getan, zu viele Lücken bestehen noch. „Aber wir haben die wissenschaftlichen Werkzeuge und das ethische Bewusstsein, um eine Welt zu schaffen, in der Forschung ohne Tierleid möglich ist. Es liegt an uns, diesen Wandel aktiv voranzutreiben“, sagt Hartung. Denn ein Ende von Tierversuchen würde, anders als oft behauptet, keinesfalls auch ein Ende der Forschung bedeuten und den Fortschritt ausbremsen. Dessen schien sich auch die noch amtierende Bundesregierung bewusst. Zumindest erweckte ihr Koalitionsvertrag den Eindruck. Darin hatte sie unter anderem die Erarbeitung einer Strategie zur Reduktion von Tierversuchen angekündigt, die angestoßen wurde und auch nach dem Ende der Koalition fortgeführt wird. „Das war ein begrüßenswerter Schritt, ebenso, dass sie im Bundeshaushalt 2024 eine Million Euro dafür bereitgestellt hat und eine weitere Million über die nächsten Jahre zur Verfügung stellen will. Doch das kann nur ein erster Schritt sein, da die Mittel nicht ausreichen, um einen kompletten Ausstieg aus Tierversuchen zu realisieren“, analysiert Wagner.

Die Entwicklung und Förderung tierversuchsfreier Methoden ebnet den Weg in eine Zukunft, in der wissenschaftlicher Fortschritt nicht mehr mit Tierleid erkauft werden muss.

Der Deutsche Tierschutzbund fordert, Deutschland solle Tierversuche nicht nur reduzieren. „Wie von der EU-Kommission vorgegeben sollte die Bundesregierung das mittel- bis langfristige Ziel eines kompletten Ausstiegs aus Tierversuchen nicht aus den Augen verlieren. Auch die Tierschutzgesetzgebung und die Tierversuchsverordnung sollten dies künftig berücksichtigen“, so Wagner. Zudem müsse die Forschung zu tierversuchsfreien Methoden stärker finanziell gefördert werden. „Obwohl die Unterstützung in den letzten Jahren zugenommen hat, ist sie im Vergleich zu den Mitteln für Tierversuche noch immer unzureichend“, merkt Hartung an. Es geht nur mit einem kulturellen Wandel in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und stärkerer politischer Unterstützung. Länder wie die Niederlande investieren erheblich in die Forschung und Entwicklung alternativer Methoden und setzen klare politische Vorgaben. Damit dienen sie als Vorbilder und zeigen, dass ein entschlossener politischer Wille große Veränderungen bewirken kann.

Strengere Vorschriften und Anreize für tierversuchsfreie Methoden

Nur wenn mehr Gelder in die Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren fließen, können sie schneller und in der Breite an die Stelle der leidvollen Experimente rücken. Darum ist auch die Rolle der Gesetzgebung so entscheidend. Deshalb fordert der Deutsche Tierschutzbund strengere Vorschriften für Tierversuche und Anreize für die Entwicklung und Anwendung tierversuchsfreier Methoden. Bis Letztere flächendeckend die Forschung voranbringen und das Tierleid verhindern, müssen die politisch Verantwortlichen schwer belastenden Tierversuchen einen Riegel vorschieben. Dazu gehören Versuchsreihen, bei denen soziale Tiere lange isoliert werden, sie in Giftigkeitstests sterben oder Elektroschocks nicht entkommen können. Auch den Experimenten an nichtmenschlichen Primaten muss die Regierung ein Ende setzen und die EU-Tierversuchsrichtlinie hierzulande korrekt umsetzen. Bislang geschieht das nämlich nur mit erheblichen Mängeln. „Insbesondere die gesetzlichen Vorgaben zum Genehmigungsverfahren für Tierversuche müssen endlich korrigiert werden, sodass die Genehmigungsbehörden unabhängig prüfen können, ob ein beantragter Tierversuch wirklich unerlässlich ist“, so die Expertin. Aktuell können sie lediglich prüfen, ob die Angaben der Forscher*innen plausibel sind, wenn diese argumentieren, die geplanten Tierversuche seien ethisch vertretbar und unerlässlich.

Es ist an der Zeit

Auch Tierschützer*innen bezweifeln nicht, dass Tierversuche in der Vergangenheit wichtige Erkenntnisse geliefert haben. „Doch wir müssen anerkennen, dass es zu dieser Zeit bei Weitem nicht die Fülle an Alternativen gab“, so Wagner. Angesichts der hochmodernen tierversuchsfreien Methoden, die uns heute zur Verfügung stehen, ist es an der Zeit, uns endlich von überholten Vorstellungen zu verabschieden. „Wir müssen die Chancen der Gegenwart nutzen, um eine neue Ära der Wissenschaft einzuläuten. Eine Ära, in der Tierversuche der Vergangenheit angehören und die die Sicherheit und das Wohlergehen von Mensch, Tier und Umwelt in den Mittelpunkt rückt.“

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